24. Jahrgang | Nummer 24 | 22. November 2021

Irmgard Keuns Briefe aus dunkler Zeit

von Wolfgang Brauer

Es sind Dokumente einer merkwürdigen Beziehung, die Michael Bienert jetzt bei Quintus herausgegeben hat. Unter dem Titel „Man lebt von einem Tag zum anderen“ veröffentlichte er den Briefwechsel zwischen der Erfolgsautorin Irmgard Keun und dem vollkommen unbekannten Arbeiterschriftsteller Franz Hammel, der nach 1933 unter dem Namen Franz Hammer publizierte. Einige der Keun-Briefe hatte Bienert bereits 2020 in Sinn und Form veröffentlicht. Anlass war das Erscheinen seines Buches „Das kunstseidene Berlin“. Jetzt ist der Briefwechsel vollständig nachlesbar.

Auslöser für den zeitlich recht kurzen Austausch – er hielt nur knappe anderthalb Jahre an – war ein Brief des jungen thüringischen Autors, der 1935 arbeitslos und ohne sichere Publikationsaussichten geistigen Kontakt zu möglicherweise Gleichgesinnten sucht, die in in einer ähnlichen Situation wie er stecken: „Wichtig ist es daher, wenn man die Gewissheit hat, dass es Menschen gibt, die in der Ferne empfänglich sind für die Strahlen, die man – zaghaft oft – aussendet …“ Hammer verbindet das mit einem überschwänglichen Lob für das Keunsche „Märchen vom Wirtshaus zum ewigen Leben“, das er in der Frauenbeilage der Frankfurter Zeitung gefunden hatte. Er verbindet das mit einer Quasi-Entschuldigung, dass er seinerzeit ihren Roman „Gilgi – eine von uns“ (1931) unter dem Eindruck der Verrisse in der linken Presse ignoriert habe. Auch Tucholskys lobende Besprechung des Romans 1932 in der Weltbühne war durchaus ambivalent. Hammel gehörte in jenem Jahr zur Autorenschaft des Blättchens.

Irmgard Keun antwortet kurze Zeit später, sie findet Interesse am Schreiber: „Wer sind Sie, wie leben Sie, wovon leben Sie?“ Hammer antwortet stante pede mit einem Brief, in dem er ausführlich seine materiell erbärmliche Situation und die geistige Notlage schildert, in die er durch den „Umsturz“, wie er schreibt, geraten war. „Ich hatte sogar einmal den Ehrgeiz, ein deutscher Upton Sinclair zu werden …“, gesteht er seiner Briefpartnerin. Was sich nach dieser, ob ihrer beidseitigen Offenheit verblüffenden Ouvertüre entblättert, ist ein Briefwechsel, der tiefe Einblicke in die seelische Verfasstheit, die materiellen Nöte und das Ringen mit den zutiefst feindseligen kulturpolitischen Rahmenbedingungen von Autoren offenbart, die versuchen in Deutschland zu bleiben und hier zu schreiben, ohne ihre Seele zu verkaufen. Aus ihrer Ablehnung der braunen Gesellschaft machen beide keinen Hehl, obwohl manches mit deutlicher Zurückhaltung formuliert ist.

Irmgard Keun emigriert am 4. Mai 1936 nach Ostende (Belgien). Franz Hammer bleibt in Deutschland. Er schafft es sogar, in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden, Voraussetzung für jegliche Art von Publikation in Nazi-Deutschland. Keun bleibt die Aufnahme verwehrt, das damit verbundene Berufsverbot – ihre Verzweiflung führte im April 1936 zu einem Selbstmordversuch – hatte sie ins Exil getrieben. Ihr letzter Brief an Franz Hammer vor dem Kriegsbeginn datiert vom 8. Februar 1937. Sie schreibt ihm aus Lemberg (heute Lwiw), in das sie mit ihrem Geliebten Joseph Roth reiste.

Michael Bienert nahm in seine Ausgabe auch zehn Briefe der Keun aus der Kriegs- und Nachkriegszeit auf. Irmgard Keun war 1940 nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Belgien nach Deutschland zurückgekehrt und überlebt die Kriegsjahre als Charlotte Tralow – sie war 1932 bis 1937 mit dem Regisseur und Autor Tralow verheiratet – zurückgezogen bei den Eltern und in einem Dorf an der Mosel. Es handelt sich hauptsächlich um Briefe an Tralow sowie die Freundinnen Maria Maßbach und Annemarie Schäfer. Am 31. Mai 1946 sprach sie im Nordwestdeutschen Rundfunk: „Ich war das Leben hier im Land derart satt, daß es mir gleichgültig gewesen wäre, wenn man mich erwischt hätte. Erst als die Bombenangriffe wieder stärker wurden, bekam ich wieder Lust zum Leben und nackte Angst ums Leben.“ In den von Bienert aufgenommen Briefen lässt sich das nachvollziehen.

Nach dem Krieg versucht Irmgard Keun, die durch Krieg und Exil unterbrochenen Kontakte wieder zu beleben, als Autorin wieder Fuß zu fassen. Es ist nicht nur die Alkohol-Krankheit, die ihre Pläne immer wieder durchkreuzt. Es sind auch die Zustände im Lande: „Der ganze Boden in Deutschland stinkt noch nach Mord und Leichen, und nun zieht sich ein Schleim von Frömmigkeit darüber hin. In der Ostzone beten sie andersrum.“ Das schreibt sie am 23. August 1947 an Hermann Kesten, der in den USA geblieben ist. Michael Bienert zitiert das Schreiben in einer Anmerkung, die Kesten-Briefe selbst finden sich in der dreibändigen Werkausgabe des Wallstein-Verlages (2018). Auch mit Franz Hammer gibt es – das geht offenbar auch wieder von ihm aus – 1946 den Versuch einer Kontaktaufnahme. Warum es beim Versuch bleibt, gehört zu den vielen großen und kleinen Rätseln, die in der Keunsche Biografie immer noch ungelöst sind. Er schreibt ihr noch einmal 1970. Der Brief erreicht seine Adressatin aber nicht. In Hammers zweiteiligem Lebensbericht aus den 1980er Jahren findet seine Briefpartnerin keine Erwähnung.

Michael Bienert setzt diesen letzten Brief an den Schluss seines kenntnisreichen Essays „Lebensspuren, Selbstentwürfe, Netzwerke“, der gleichsam die Stelle des Nachwortes einnimmt.

Ich lege dieses Buch allen ans Herz, die wissen wollen, wie das ist mit dem Schreiben in schwierigen Zeiten. Und ein Fazit ziehe ich selbst: Eine neue Keun-Biografie ist überfällig. Auch die Arbeiten von Michael Bienert weisen auf diese Notwendigkeit hin. Seit der verdienstvollen Arbeit von Gabriele Kreis (1991) ist eine Menge Wasser die Spree und den Rhein herabgeflossen.

Irmgard Keun: Man lebt von einem Tag zum andern. Briefe 1935 – 1948. In Verbindung mit der Akademie der Künste herausgegeben von Michael Bienert, Quintus, Berlin 2021, 176 Seiten, 24,00 Euro.