Berlin geht mit den Artefakten seiner großen Literaturgeschichte, gelinde gesagt, säuisch um. Museal spielen seine Autoren keine Rolle, sieht man einmal von den beiden Einrichtungen der Akademie der Künste ab, die genaugenommen zum DDR-Nachlass gehören, in denen das Erbe von Bertolt Brecht und Anna Seghers aufbewahrt und vorbildlich gepflegt wird. Der in zunehmender Agonie vor sich hindümpelnden Stiftung Stadtmuseum scheinen die Dichterinnen und Dichter der Stadt peinlich zu sein. Die Vorgängerin des derzeitigen Chefs – was macht der eigentlich die ganze Zeit? – wies einmal meine Frage nach der Präsentation der Berliner Literaturgeschichte im hiesigen Stadtmuseum voller Empörung zurück: Mit ihr werde es solche Spezialpräsentationen nicht geben. Sie wolle die „große Erzählung“ Berlins darstellen. Das kann man in den gähnend langweiligen Hallen des Märkischen Museums derzeit besichtigen.
Aber wir wollen nicht ungerecht sein. Es gibt in Berlin noch Michael Bienert. Der stammt aus Kaiserslautern und ist damit ebenso wie die das literarische Antlitz der Stadt prägenden Autoren E.T.A. Hoffmann, Bertolt Brecht, Erich Kästner, Alfred Döblin und auch Theodor Fontane ein „Zugereister“. Wie viele bedeutende Berlinerinnen und Berliner, selbst Friedrich Schiller wäre es beinahe geworden. Auch Zille war gebürtiger Sachse. Über Döblins, Kästners, Brechts und Hoffmanns „literarische Schauplätze“ in Berlin hat Michael Bienert Bücher geschrieben. Einige haben wir im Blättchen vorgestellt.
Jetzt legte der Autor bei vbb den Band „Das kunstseidene Berlin“ vor. Natürlich geht es darin – wie der Untertitel verspricht – um Irmgard Keuns literarische Schauplätze. Keun? Keun, da war doch was? Eben, das ist das Problem. Irmgard Keun wurde 1905 in Charlottenburg – das gehörte damals noch nicht zu Berlin – geboren. Wenigstens ziert seit 2006 den Eingang ihres Geburtshauses in der Meinekestraße 6 eine Gedenktafel. Allerdings wuchs sie in Köln auf, und da ist sie auch begraben. Bienert nahm deshalb in sein Berlin-Buch ein „Kölsches Intermezzo“ auf, in dem er schildert, wie er mit Martina Keun-Geburtig und deren Ehemann den Spuren der Mutter in der Rheinmetropole folgt und erstaunt wahrnimmt, dass eine Porträt-Plastik der Schriftstellerin den Turm des Kölner Rathauses ziert – nebst 123 anderen Persönlichkeiten aus der Geschichte Kölns wie Kaiser Augustus, Karl der Große, Konrad Adenauer und Heinrich Böll. In Berlin undenkbar.
Im Oktober 1931 erscheint im Berliner Universitas-Verlag Keuns Roman „Gilgi, eine von uns“. Gilgi, eine junge Stenotypistin aus Köln, sucht am Ende des Buches ihr Glück als Sekretärin in Berlin. Die Schriftstellerin folgt ihr. Im Sommer 1931 ist die junge Kölnerin mit dem „Gilgi“-Manuskript in der Tasche in der Reichshauptstadt. Das Buch wird ein Riesenerfolg, mit Brigitte Helm („Metropolis“) in der Hauptrolle sogar verfilmt. Auch Doris, die Heldin des zweiten Buches der Keun, „Das kunstseidene Mädchen“ (1932), landet in Berlin. Allerdings nicht ganz freiwillig. Sie flieht mit einem geklauten Eichhörnchenpelz (dem „Feh“) aus der Provinz in die Weltstadt – immer auf der Suche nach dem „Glanz“, an dem sie unbedingt teilhaben möchte.
„Das kunstseidene Mädchen“ ist ein Berlin-Roman. Zwischen Ernst-Reuter-Platz (seinerzeit „Knie“ genannt) und Nollendorfplatz, zwischen dem noblen Kurfürstendamm und den Hinterhöfen der Münzstraße am Alexanderplatz lässt die Autorin ihre Doris in einem faszinierend montierten Roman durch die Welt der Tippmädchen der frühen 1930er Jahre taumeln. Immer irgendwie zwischen zeitweilig „sicher“ erscheinender Anstellung und Elendsprostitution.
Michael Bienert nimmt den Roman gleichsam als literarischen Stadtführer. Er spürt die Handlungsorte auf, sucht die Querverbindungen zu Lebensorten und -umständen der Autorin und liefert auf die Art und Weise ein Kaleidoskop Berlins in den späten „goldenen Zwanzigern“. Dass diese Bezeichnung mehr Wunsch denn Realität in der von sozialen und politischen Konflikten zerrissenen Metropole war, führt er auf eindringliche Weise vor. Kunstseiden eben, Glanz halt, aber eben kein echter. 1933 war auch damit Schluss. Irmgard Keun war schon vorher mit ihren Büchern zwischen die Stühle von rechts und links geraten. Jetzt werden sie verboten. Ihre Bemühungen um Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer scheitern 1936, das ist das Berufsverbot. „Gilgi“ und „Das kunstseidene Mädchen“ finden sich schon Anfang 1933 auf der „Schwarzen Liste“ des Literatur-Denunzianten Wolfgang Herrmann.
Irmgard Keun verlässt im Oktober 1933 Berlin Richtung Köln. Ins Exil geht sie allerdings erst am 4. Mai 1936, taucht aber 1940 wieder bei ihren Eltern in Köln auf. Den Krieg überlebt sie als de facto Untergetauchte. Das Wort von der „inneren Emigration“ trifft wohl eher auf sie denn auf jene ihrer Autoren- oder Journalistenkollegen zu, die sich bei den Nazis mehr oder weniger anbiederten und nach 1945 eine persilscheinflankierte Neu-Karriere antraten .
Bienert folgt seiner Protagonistin auch hier en détail. Damit hatte er es schwer. Irmgard Keun überzog gerade die Jahre von 1933 bis 1945 mit einem Schleier. Das hat auch etwas mit ihren überaus komplizierten Partnerschaftsbeziehungen zu tun; zwischen beispielsweise Joseph Roth und Johannes Tralow lagen nicht nur literarisch Welten. Auch Bienert muss viele Fragen offen lassen.
Nach Kriegsende kehrt Irmgard Keun nach Berlin nur noch besuchsweise zurück. Johannes R. Becher versuchte, sie in die Sowjetische Besatzungszone zu holen. Das scheitert. Bienert zitiert einen Brief an den Freund Hermann Kesten: „Der ganze Boden in Deutschland stinkt nach Mord und Leichen, und nun zieht sich ein Schleim von Frömmigkeit darüber hin.“ Das bezieht sich auf Köln. Aber: „In der Ostzone beten sie andersrum.“ Also auch kein Ort. Im Verlag der Nation erscheinen in den 1950er-Jahren ihre Bücher (nur eben nicht „Gilgi“ und „Das kunstseidene Mädchen“). Sie besucht Anna Seghers, wohnt in deren Nachbarschaft bei Berta Waterstradt und macht 1959 mit Mutter und Tochter vier Wochen Urlaub im Petzower Schriftstellerheim. Der Dichter Heinz Kahlau erlebt allerdings eine „zerfledderte“ Persönlichkeit.
Michael Bienert erzählt von der Tragik dieser großen Autorin mit selten gewordener Empathie. Er erhebt sich nicht über Irmgard Keun, er benutzt aber auch keinen Weichzeichner, um ihre Ecken und Kanten gefälliger zu machen. Und er hat ein spannendes Buch über Berlin geschrieben. Man sollte sich damit in eine stille Leseecke zurückziehen, die Bücher seiner Protagonistin möglichst griffbereit haben und anschließend auf Stadterkundung gehen. Das eingangs beschriebene Banausentum der Berliner Kulturpolitik kann man dann zumindest in diesem Falle ignorieren. Michael Bienert und dem Verlag, der eine großzügige, das Auge des Lesers erfreuende Ausstattung des Buches ermöglichte, sei Dank.
Michael Bienert: Das kunstseidene Berlin. Irmgard Keuns literarische Schauplätze. Berlin 2020, verlag für berlin-brandenburg, 200 Seiten, 25,00 Euro.
Schlagwörter: Berlin, Irmgard Keun, Michael Bienert, Wolfgang Brauer