Der letzte Satz des hier in Rede stehenden klugen Büchleins „America Second? Die USA, China und der Weltmarkt“ endet mit „nichts Neues also, nur schöner verpackt“. Wie dieses „nicht Neue“ nun aber von seinem Autor Christoph Scherrer fakten-, quellen- und gedankengestützt hergeleitet wird: Das hat mancherlei Neues in sich, und so kann kurzweiliges, erhellendes Lesen garantiert werden. Zumal dafür nicht viel Zeit veranschlagt werden muss. Wie alle Bändchen der Reihe „Kapital & Krise“ des Verlages Bertz + Fischer kommt auch das vorliegende – es ist als Nr. 7 ausgewiesen – im schmalen Oktavheftformat daher.
Erstes Plus: der historische Abriss. Scherrer unternimmt es, die wohl unbestrittene Rolle der USA als „entscheidende Kraft bei der Gründung und Ausgestaltung der für die Weltwirtschaft zentralen multilateralen Institutionen“ in ihrer zeitlichen Veränderung zu beleuchten und damit zu zeigen, auf welche Weise die verschiedenen Administrationen diese Ausgestaltung betrieben, von welchen innenpolitischen Kräfte- und Interessengruppierungen sie jeweils getragen wurden und welche aus Sicht der USA entscheidenden Erfolge oder Misserfolge bei Weltmarktöffnung und -beherrschung ihre Bilanz bestimmten. Eckpunkte dieser Darstellung sind etwa der Übergang vom festen Goldkurs zu flexiblen Wechselkursen 1970–1973, das Wirken der Trilateralen Kommission (mit Japan und Westeuropa) 1973–1980 und der Übergang zum US-amerikanischen Unilateralismus, der sich nicht nur für den „Abschluss von bilateralen Freihandels- und Investitionsschutzabkommen“, sondern auch „für die Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO)“ im Jahre 1995 als „hilfreich“ erweisen sollte.
Den Nutzen der WTO für die „Befürworter*innen weiterer Handelsliberalisierungen“ sieht Scherrer allerdings dadurch „erschöpft“, dass ihr „Konsensprinzip“ und „die Vorgabe, dass Liberalisierungen für alle Mitgliedsländer zu gelten haben“, „nicht geeignet“ seien, „die bevölkerungsreichen, technologisch aufrüstenden Staaten wie Brasilien, China und Indien zu weiteren Zugeständnissen hinsichtlich des Schutzes von geistigem Eigentum, Finanzdienstleistungen und Agrarmärkten zu bewegen.“ Um da erfolgreich zu sein, hätten die USA, die EU und Japan ihrerseits „gewillt sein müssen, ihre Agrarsubventionen signifikant zu reduzieren und ihre Arbeitsmärkte für Arbeitskräfte der Handelspartner zu öffnen.“ Da sie diesen Willen nicht aufzubringen bereit waren, gingen die USA und in ihrer Folge auch die EU dazu über, dem Multilateralismus der WTO den Rücken zu kehren und weitere Liberalisierungsschritte bilateral mit einzelnen Handelspartnern zu vereinbaren.
Zweites Plus: Der hegemonietheoretische Ansatz. Scherrer bringt, um den sich verändernden Platz der USA in der Weltwirtschaft und -politik genauer erfassen zu können, die „gramscianische Belegung“ des Hegemoniebegriffs ins Spiel: Hegemonie werde „dann ausgeübt, wenn es gelungen ist, partikulare Interessen weitgehend zu universalisieren und mit staatlicher Gewalt zu panzern“. Dabei liege – fügt er hinzu – die Betonung auf weitgehend, da Gramsci einen Herrschaftszustand nicht erst dann als „hegemonial“ bezeichne, wenn „alle“ diese Herrschaft für legitim halten und ihr zustimmen.
Und um welche „partikularen Interessen“, die von vielen für legitim gehalten werden und daher als hegemonial gelten können, geht es nun? Um sowohl – meint Scherrer – das Interesse der US-amerikanischen Bourgeoisie an fortgesetzter Vormachtstellung als auch um das Interesse einer sich immer weiter herausbildenden „internationalen Bourgeoisie“ an einer Sicherung der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse überhaupt. Dies könne als „verschränkte Hegemonie“ – verschränkt zwischen „US-amerikanischem Nationalstaat“ und eben dieser „emergenten internationalen Bourgeoisie“ – beschrieben werden.
Der historische Abriss lässt die Konturen des Gemeinten deutlicher hervortreten: Im fordistischen Zeitalter hätten die USA die kapitalistischen Verhältnisse „durch eine Abwehr der äußeren kommunistischen Herausforderung mit militärischen Mitteln und der inneren Infragestellung mittels des fordistischen Produktivitätspakts“ gesichert; jetzt aber verfochten sie „das neoliberale Projekt der Stärkung der Rechte der Kapitaleigner und der Geldvermögensbesitzer“, was gleichbedeutend sei mit einer durch „Globalisierung, Finanzialisierung und Militarisierung“ erzwungenen „Zurücknahme des fordistischen Kompromisses“ und im Ergebnis zu einer „zunehmenden Prekarisierung der Lohnabhängigen“ führe. Genau dies sei das Projekt der „emergenten internationalen Bourgeoisie“, und es werde „nicht allein, aber doch zentral mit Hilfe der Machtressourcen der USA weltweit verfolgt“. In „Abwesenheit eines Weltstaates“ sei der US-Staat „nicht nur das verdichtete Verhältnis seiner innergesellschaftlichen Kräftekonstellation, sondern zudem ein zentraler Magnet auf dem Feld der Global Governance, welches von staatlichen und wirtschaftlichen Eliten hegemonial durchdrungen wird.“
Und China nun stellt sich dieser Magnetwirkung entgegen. Es verficht seine eigenen Ziele. Seine – so sieht es Scherrer – „in der Kommunistischen Partei organisierte Bourgeoisie“ gehöre „noch nicht so recht hinein“ in diese „emergente internationale Bourgeoisie“, und das werde von dieser zunehmend als eine die eigene Eigentumsordnung infrage stellende Herausforderung empfunden. Und das, obwohl China doch „nur noch in der eigenen Propaganda kommunistisch“ sei und „auch nicht mehr kommunistische Befreiungsbewegungen unterstützt“.
Da haben wir ihn: den neuen Systemkonflikt, den neuen „Kalten Krieg“. „Das US-Kapital“ – so Scherrer – sehe sich vor die Frage gestellt, „wie die chinesische Regierung dazu gebracht werden kann, ihre Märkte für ausländische Investitionen zu öffnen und von einer auf Eigenständigkeit zielenden Industrie- und Technologiepolitik abzulassen“. Barack Obama habe dafür in seiner Amtszeit (2009–2016) eine Strategie der „Umzingelung“ Chinas mittels einer „Transpazifischen Partnerschaft“ entwickelt. Donald Trump (2017–2020) sei angesichts des Scheiterns dieser Partnerschaftspläne zur „direkten Konfrontation“ übergegangen. Die stehe nun nicht mehr so unverblümt auf der Tagesordnung, aber gerechnet werden müsse dennoch mit einem „gemeinsamen“, womöglich mit „Nachhaltigkeitsrhetorik“ ausgeschmückten „Vorgehen gegenüber China“, und „wohl kaum“ dürfe damit gerechnet werden, dass Konzepte wie „America First“ oder „Festung Europa“ aufgegeben würden.
In der Pandemie – so schließt Scherrer – sei die Kraft „nationaler, regionaler und vor allem kapitalistischer Egoismen“ in besonders deutlicher Weise hervorgetreten. Und sein ganzes Büchlein zeigt: Von einem die großen Menschheitsprobleme in den Blick nehmenden Universalismus ist die Welt durch die Aggressivität der Verlierer – jener westlichen Staaten, die glauben, ihre Beherrschung des Globus sei für die Ewigkeit – weit, sehr weit entfernt.
Christoph Scherrer: America Second? Die USA, China und der Weltmarkt, Bertz + Fischer, Berlin 2021, 132 Seiten, 8,00 Euro.
Schlagwörter: China, Christoph Scherrer, Systemkonflikt, USA, Weltmarkt, Wolfram Adolphi