24. Jahrgang | Nummer 21 | 11. Oktober 2021

Rarität und Kleinod. Ein Besuch in Neuenhagen

von Jürgen Hauschke

Am 21. Juli dieses Jahres, dem Geburtstag des Geehrten, wurde nach langer Ankündigung und dennoch verspätet das Fallada-Haus in Neuenhagen eröffnet. Es ist der einzige in Brandenburg gelegene museale Ort für den Schriftsteller Hans Fallada. Das kleine Museum befindet sich im Falladaring 10 (bis 1963 Grüner Winkel) und ist nur nach Voranmeldung bei der Gemeinde Neuenhagen zu besichtigen. Diese Einschränkung gilt auch für unseren gewünschten Besuch des Rathausturmes mit seinem riesigen Wassertank und der Aussichtsplattform sowie des Ratssaales im Bauhausstil.

Dank der ebenso fachkundigen wie liebenswerten Begleitung durch Jutta Skotnicki, die die Öffentlichkeitsarbeit und den Tourismus in der „Gartenstadt Neuenhagen“ verantwortlich betreut, wurde unser Besuch dieser Sehenswürdigkeiten ein informatives und angenehmes Erlebnis.

Rudolf Ditzen, ein noch unbekannter Schriftsteller, zog im Juni 1930 mit seiner Ehefrau Anna und dem gerade drei Monate alten Sohn Ulrich auf Empfehlung seines Verlegers Ernst Rowohlt in das östlich von Berlin, aber günstig an der Ostbahn gelegene Neuenhagen, eine aufstrebende Gemeinde mit gut 6000 Einwohnern. In einem Brief schreibt Ditzen: „Da fand ich denn durch Zufall hier draußen, ungefähr eine Bahnstunde von Berlin ab, dieses Siedlungshäuschen. 2½ Zimmer mit Küche und Keller und Boden und einem Gärtchen, das ganze Häuschen hat man für sich allein. 65 Mark Miete. Nun geht es gerade, denn der Sohn kostet auch Geld. Aber es ist schön hier draußen, noch ganz ländlich[…]“ Das kleine Reihenhaus mit 54 qm Wohnfläche gehörte und gehört inzwischen auch heute wieder der Berliner Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land und war gerade neu errichtet worden. Ein Glücksfall für die junge Familie, die jetzt ihre erste gemeinsame Wohnung bezog. Unter dem Pseudonym Hans Fallada schrieb hier jener Rudolf Ditzen in wenigen Monaten hauptsächlich seinen späteren Erfolgsroman „Kleiner Mann – was nun?“. Ehefrau Anna, sein „Lämmchen“, und Sohn Uli, „Murkel“ genannt, gingen als Romanfiguren in die Literaturgeschichte ein. In „Heute bei uns zu Haus“ schreibt Fallada 1943 rückblickend: „Der kleine Mann wurde ein Welterfolg – ich muß leider sagen: leider. Das Geld strömte nur so herbei. Wir hatten von 220 Mark glücklich gelebt, unsere Sorgen fingen an, als wir plötzlich über große Summen zu verfügen hatten. Suses Sorgen fingen da an. Ich selbst verlor völlig den Kopf… Wahrhaftig der Grüne Winkel in Altenhagen, wo wir hausten, war ihr ans Herz gewachsen. Aber der Grüne Winkel lag zu nahe bei Berlin, bei Bars, sie war bereit ihn aufzugeben.“ Die junge Familie zog es zuerst nach Neuenhagen, um den gefährlichen Verlockungen der Großstadt Berlin zu entgehen. Als dies nicht mehr half, ging sie im Herbst 1932 nach Berkenbrück und schließlich 1933 nach Carwitz, nahe dem mecklenburgischen Feldberg gelegen. Wie wir wissen, half auch dies dem nunmehr weltbekannten erfolgreichen Schriftsteller nicht, der Morphiumsucht und der Alkoholabhängigkeit zu entkommen. Die Familie zerbrach. Fallada starb unter tragischen Umständen 1947 in Berlin.

Das Neuenhagener Fallada-Haus würdigt insbesondere Falladas literarisches Wirken und die Lebensumstände der Familie Ditzen in Neuenhagen. Eine umfangreiche Buchsammlung zu Falladas Schaffen und andere Medien über den Schriftsteller sind zu entdecken. Genutzt werden soll das Haus von der Gemeinde und der nach seiner Frau benannten Anna-Ditzen-Bibliothek auch als kulturelle Begegnungsstätte. Zu Stationen aus seinem Leben, über das Bronzerelief am Wohnhaus und über die Bronzeplastik neben dem Neuenhagener Rathaus, die beide der Neuenhagener Bildhauer Michael Klein zu Fallada geformt hat, wurde im Blättchen bereits berichtet.

Das führt uns zurück zum außergewöhnlichen Rathaus von Neuenhagen bei Berlin, zu einer architektonischen Rarität. Anfang des 20. Jahrhunderts nahm Neuenhagen in kurzer Zeit eine stürmische Entwicklung. Befeuert wurde diese durch das Aufblühen des Pferderennsports in Neuenhagen und der Nachbargemeinde Hoppegarten sowie die Anbindung des Ortes durch die Ostbahn an Berlin. Kurz, Neuenhagen brauchte ein neues Rathaus. Da gleichzeitig die bestehende Wasserversorgung der sich schnell entwickelnden Gemeinde nicht mehr ausreichte, beschloss die Gemeindevertretung den Bau eines Rathauses mit integriertem Wasserturm. Das war im November 1924. Nach der Grundsteinlegung im Mai 1925 folgte im September 1926 die Einweihung des Gebäudes. Man beachte die nicht nur heute ungewöhnlich zügige zeitliche Abfolge! Der typische Mittelturmbau erhielt eine verschieden kolorierte rote Backsteinfassade aus Sommerfelder Klinker. Am äußeren strengen Korpus lässt sich die innere Konstruktion gut erkennen. Auf dem viergeschossigen Unterbau erhebt sich der Rathausturm mit zwei weiteren Verwaltungsgeschossen. Darüber thront der Stahlbetontank mit seinen circa 1000 Kubikmetern Fassungsvermögen. Nach fast 70 Jahren wurde der „Wasserkopf“ im Verwaltungsgebäude nicht mehr benötigt und 1995 geleert.

Schließlich bildet eine Aussichtsterrasse auf 40 Metern Höhe den oberen Abschluss des expressionistisch wirkenden Baus. Da das Rathaus auf dem 66 Meter hohen ehemaligen Mühlenberg errichtet wurde, erleben wir hier einen herrlichen Rundumblick, natürlich bis zum Berliner Fernsehturm, aber auch bis zur ursprünglichen Cargolifterhalle, dem heutigen Tropical Island, weit im Brandenburger Land. Wir hatten die Gelegenheit beim wenig mühevollen Aufstieg auf den Turm durch einen Tipp unserer Begleiterin die Nisthilfen für die Turmfalken zu entdecken. Auf dem Rückweg zum Auto sahen wir das Turmfalkenpärchen mit seinen zwei Jungen den Rathausturm umkreisen.

Nun, die ungewöhnliche Mariage aus Rathausturm und Wasserturm ersparte der Gemeinde viel Geld, da die Kosten mit dem Kreiswasserwerk Niederbarnim geteilt werden konnten. Dieser Idee folgend wurde die Engelhardt-Brauerei geworben, den im Souterrain liegenden Ratskeller zu bewirtschaften. Leider wird er heute nicht mehr gastronomisch genutzt.

Zu verdanken hat Neuenhagen die Rathausrarität seinem ersten besoldeten Gemeindevorsteher Max Thormann. Die Ausschreibung zur Errichtung des Rathauses gewann die Allgemeine Bau Aktiengesellschaft (ABA) aus Berlin. Projektant war der Charlottenburger Baurat Wilhelm Wagner. 1999 konnte der Ratssaal umfassend restauriert werden. Zu Ehren von Max Thormann wurde 2001 der Ratssaal nach ihm benannt. Der Saal erstreckt sich zentral über zwei Etagen. Seine klare farbliche Gestaltung besticht durch horizontal umlaufende verschiedenfarbig abgestimmte Streifen. Die aus Goetheglas gefertigten Fenster mit ihrer eingebrannten Schmelzfarbenmalerei korrespondieren mit der gesamten Farbgestaltung. Die Beleuchtungskörper wurden extra für den Saal geschaffen und unterstreichen die allgegenwärtigen Zitate des Bauhausstils. Nicht mehr originalgetreu ist die Bestuhlung. Auch die Fenster mussten, nachdem sie Anfang der 50er Jahre unbekannt „verschwanden“, nach den historischen Entwürfen erneuert werden. Deckenkassetten und Parkettfußboden runden den überaus freundlichen Gesamteindruck des Saales ab.

2010 und 2011 erhielt das inzwischen zu klein gewordene Rathaus einen modernen lichtdurchfluteten und schwungvollen Anbau, der sich an das nunmehr fast hundertjährige Gebäude harmonisch anpasst. Neben dem Eingang befindet sich auch die sitzende Fallada-Figur aus Bronze, nur wenige hundert Meter vom ehemaligen Wohnhaus des Dichters entfernt.

Ein Besuch in Neuenhagen mit seinen nunmehr über 18.000 Einwohnern lohnt sich sehr, zum Tag des offenen Denkmals auch ohne Voranmeldung.

Gemeinde Neuenhagen bei Berlin (Herausgeberin): Hans Fallada. Sein Leben in Neuenhagen mit Bildern und Zitaten, 2019, 128 Seiten, 8,00 Euro.