von Wolfgang Brauer
Das Rathaus der Berliner Stadtrandgemeinde Neuenhagen ist ein Blickfang. Der 42 Meter hohe Bau wurde 1925 bis 1926 nach einem Entwurf des Berliner Architekten Wilhelm Wagner errichtet und ist eigentlich ein Wasserturm. 2011 wurde er mit einem in leicht geschwungener Form gestalteten dreigeschossigen Anbau versehen. Der Vorplatz erinnert ein wenig an ein Amphitheater. In der ersten Reihe, gleich neben dem Rathauseingang, hockt ein ermüdet wirkender Mann aus Bronze, die Zigarette im linken Mundwinkel, rechts neben sich ein Obstkörbchen, mit der linken Hand hält er eine Papierrolle auf dem Schoß. Es ist Rudolf Ditzen, der sich als Schriftsteller Hans Fallada nannte. Die Plastik schuf der Neuenhagener Bildhauer Michael Klein im Jahre 2012.
Kundige wissen sicher längst, dass es sich bei der Papierrolle nur um das Manuskript von „Kleiner Mann – was nun?“ handeln kann. Vor dem Dichter sind in das Pflaster des Platzes Markierungen eingelassen, denen man folgen sollte. Nach wenigen Minuten steht man inmitten einer kleinen Reihenhaussiedlung der 1920er Jahre. Die Straße – heute Falladaring – hieß seinerzeit Grüner Winkel. Und in dessen Nummer 10 zogen im Juni 1930 Rudolf Ditzen, Gattin Anna und Sohn Uli ein. Dem Schriftsteller ging die große Stadt Berlin zunehmend auf die Nerven, Berlin war zu teuer, er suchte Ruhe zum Schreiben. Die kleine Familie wollte einen Ort im Grünen, der zudem nicht allzu weit von Berlin sein durfte. Fallada war auf engen Kontakt zu Ernst Rowohlt angewiesen, der ihm nach dem Abgang aus Neumünster überhaupt erst eine de facto freischaffende Schriftstellerexistenz ermöglichte.
„Unser Häuschen, unsere Villa“, wie Fallada das neue Domizil nannte, sei „ganz geräumig, aber nicht sehr groß. Wie eben alles ein bißchen Puppenhaus ist.“ Aber es hat „2 ½ Zimmer mit Küche und Keller und Boden und einem Gärtchen, das ganze Häuschen hat man für sich allein“. Wer heute davor verweilt – das Haus steht unter Denkmalschutz, die Gemeinde Neuenhagen plant dort die Einrichtung eines Kultur- und Begegnungszentrums – vermutet nicht, dass hier einmal Weltliteratur geschrieben wurde. 1931 beendete der Dichter im Grünen Winkel den ersten „richtigen Fallada“, den Roman „Bauern, Bonzen und Bomben“. Kurt Tucholsky nannte den bis heute – das trifft auf viele Fallada-Bücher zu – umstrittenen Roman ein „politisches Lehrbuch der Fauna Germanica, wie man es sich nicht besser wünschen kann“. Und er warnte in seiner Rezension für die Weltbühne den Autoren mit der Herkunft des Pseudonymes, dem an das Tor genagelten Pferdekopf der Grimmschen Märchenprinzessin, spielend: „Wenn sie dich kriegen, Hans Fallada, wenn sie dich kriegen: sieh dich vor, daß du nicht hangest!“
Fallada ahnte wohl instinktiv, dass solche Warnungen vor dem in Politik geronnenen deutschen Kleinbürger wohlbegründet waren. Zeitlebens war er vor ihm auf der Flucht. Körperlich hätten sie ihn beinahe gehabt – 1944 in der Heilanstalt in Alt-Strelitz. Gute Freunde und verständnisvolle Ärzte bewahrten damals ihn vor dem Schicksal vieler anderer, denen „lebensunwertes Leben“ attestiert wurde. Mittelbar zur Strecke gebracht, „gekriegt“ also, haben „sie“ ihn schlussendlich doch noch: Es waren der Alkohol, die Schlafmittelsucht und das Morphium, denen er als Fluchtmittel seit Beginn der 1940er Jahre nicht mehr entkam und die seinem Leben am 5. Februar 1947 ein Ende setzten. Selbst der morphinerfahrene Johannes R. Becher, der sich auf eine verzweifelte Weise um den Freund und Kollegen mühte, war da vollkommen machtlos.
Aber 1931 begann Hans Fallada in Neuenhagen erst einmal mit der Arbeit an seinem großen Wurf, dem Roman, in dem er seine Lebenserfahrungen der späten zwanziger Jahre verarbeitete, der zu einer der ganz großen Liebesgeschichten der Weltliteratur, zum Denkmal für seine Anna, werden sollte: „Pinneberg und sein Murkel“ sollte das Buch erst heißen. Daraus wurde dann „Kleiner Mann – was nun?“ – und aus Anna Ditzen, der „Suse“, wurde „das Lämmchen“, aus Rudolf „der Junge“. Bis zum tragischen Bruch der Ehe im Juli 1944 nannte Anna ihren vergötterten Mann nur so. Im August 1944 schoss er auf sie.
Die Neuenhagener „Villa“ erwies sich auf die Dauer doch als zu eng. Zum Schreiben brauchte Fallda absolute Ruhe, dann arbeitete er allerdings wie im Rausch. Im Oktober 1931 entstand ein Drittel des Buches in knapp 13 Tagen! Aber Uli, der Murkel, bekam Zähne. Der Vater floh im Dezember auf die Insel Hiddensee. Der kommerzielle Erfolg des Romanes ermöglichte ihm schließlich im Oktober 1933 – ein vorheriger Ansiedlungsversuch in Berkenbrück bei Fürstenwalde scheiterte an einer Nazi-Denunziation – den Erwerb der Büdnerei 17 in Carwitz bei Feldberg. Es ist der Ort, der wohl am nachhaltigsten mit dem Namen Hans Falladas verbunden ist. Im Haus am Carwitzer See entstanden von 1933 bis 1944 20 Romane, von denen zu Falladas Lebzeiten 15 in teils sehr hoher Auflage erschienen sind. Hinzu kamen die Verwertung von Filmrechten und die Übersetzungstantiemen – Hans Fallada war im „Dritten Reich“ der am meisten verdienende Autor Deutschlands. Ein Widerständler war er also nicht. Und mit der viel zitierten „inneren Emigration“ war es auch nicht allzu weit her.
Die Nazis betrachteten ihn als unsicheren Kantonisten, aber sie wussten, was sie an ihm hatten. Fallada spielte zwar kurz vor Ausbruch des Krieges mit dem Gedanken an Emigration, verwarf ihn aber rasch wieder. Während des Krieges ließ er sich im Range eines Majors von der Führung des Reichsarbeitsdienstes herumreichen, das Reichspropagandaministerium hatte ihn schließlich sogar zum Schreiben eines „antisemitischen Romanes ohne Antisemitismus“, wie er das Unternehmen selbst nannte, überredet. Nach der Zerschlagung Nazi-Deutschlands war er wahrscheinlich froh, dass das Typoskript mit dem zerbombten Verlagsgebäude im brennenden Dresden untergegangen war.
Peter Walther hat in seiner 2017 bei Aufbau erschienenen profunden Fallada-Biographie nachgewiesen, dass die vom Autoren selbst gestrickte Legende des bloßen Feigenblattes, an dem er nach eigener Aussage natürlich niemals ernsthaft gearbeitet habe, ansonsten nicht haltbar gewesen wäre. Walther nennt dieses Jonglieren mit der eigenen Biographie „taktische Wahrheiten“. Günter Caspar, der verdienstvolle Aufbau-Lektor und Herausgeber der Werkausgabe, hat einmal angemerkt – und Walther zitiert ihn –, dass er auf die Erinnerungen der Zeitgenossen keinen Pfifferling mehr gebe, „sie irren alle“. Das gilt wohl auch für die Selbstaussagen des Dichters, die einem Realitätscheck in der Regel mitnichten eins zu eins standhalten würden. Der Begriff „taktische Wahrheit“ scheint mir dennoch unpassend zu sein. Er ist zu nahe an der bewusst gesetzten Lüge.
Hans Fallada schuf sich selbst als Kunstfigur. Das Leben des Rudolf Ditzen und das seiner Figuren scheinen oft auf merkwürdige Weise ineinander überzugehen und sich dann wieder voneinander zu lösen. Fallada folgte da, anders als viele seiner Kollegen, keinesfalls nur einem vorher festgelegten Schreibplan. Angesichts seiner Schreibtechnik kam da vieles aus den Tiefen des Unterbewusstseins auf das Papier. Gerade die autobiographisch daherkommenden Texte wie die nur auf den ersten Blick als Idyllen wirkenden Erzählungen „Damals bei uns daheim“ und „Heute bei uns zu Haus“, erst recht die großen Romane „Der Trinker“ und „Der Alpdruck“ sind in hohem Maße gestaltete Kunstwerke. „Ich bin ein Menschensammler“, sagte er von sich.
Seine Funde sind alle auf irgendeine Weise in das Werk eingegangen. Dadurch hat dieses durchaus etwas von einer Anamnese der deutschen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an sich. Ich halte es für einen Fehler, Falladas Texte partout bis auf das letzte Komma hinsichtlich autobiographischer Kongruenzen abklopfen zu wollen. „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“, sagte Rilke. Das gilt auch für Romane. Die Biographie des Autoren ist etwas anderes. Auch Carwitz war nur kurze Zeit die von Hans Fallada selbst stilisierte Idylle. Nach wenigen Jahre hatte die Risse bekommen, in die das Gift von Depressionen, egozentrischen Anwandlungen, Drogensucht, Falschheit und Verrat ganz langsam einsickerte und schließlich aus dem Paradies eine Hölle machte. Nein, Rudolf Ditzen ist mir auf sehr entschiedene Weise unsympathisch. Ich mag ihn überhaupt nicht. Das Werk des Schriftstellers Hans Fallada dagegen liebe und verehre ich.
Michael Klein sollte am Häuschen in Neuenhagen ein kleines Gedenkrelief an Hans Fallada anbringen. Das hat er getan – aber Anna Ditzens Profil ist unübersehbarer Bestandteil dieser Arbeit: Sie schaut ihrem Jungen sehr genau auf die Finger … Ohne sie hätte es den deutschen Jahrhunderterzähler Hans Fallada nicht gegeben.
Wenn Sie am 21. Juli ein Glas Rotwein auf den 125. Geburtstag des Dichters trinken sollten, dann vergessen Sie sein Lämmchen nicht.
Schlagwörter: Carwitz, Hans Fallada, Rudolf Ditzen, Wolfgang Brauer