24. Jahrgang | Nummer 19 | 13. September 2021

Ödipuskomplex – Berlin 20.21

von Joachim Lange

Auf der einen Seite gab es zum miesen Wochenendwetter viele gesperrte Straßen im Zentrum und jede Menge Polizeisirenen. Auf der anderen Seite aber meldeten sich das Deutsche Theater und die Komische Oper mit zwei Premieren aus der Sommer- und Coronapause zurück. Vor jeweils maskenfrei auf Lücke platzierten, 3G-geprüften Zuschauern.

Es war das Theater an sich, das sich machtvoll zurückmeldete und die Zuschauer in den Bann zog. Mit dem Echo einer Geschichte, die schon seit über zweitausend Jahren durch das Gedächtnis der Menschen hallt. Und die nichts an Überzeugungskraft verloren hat. Es geht um Ödipus. Dabei weniger um die Episode, in der er gegen die Pest antritt, was in Coronazeiten nahe läge. Es geht stattdessen mehr grundsätzlich um jenen schuldlos Schuldigen, der auf der Suche nach sich selbst ist. Es geht um ein Leben, das schon unter dem Orakelspruch beginnt, den Vater zu erschlagen und die eigene Mutter zu heiraten. Was dann ja auch eintritt.  Eigentlich geht es aber um den Versuch, dennoch dem Unausweichlichen auszuweichen; also Mensch zu bleiben – oder zu werden.

Keineswegs ein (nicht vorhandener) Gesamtspielplan oder irgendwelche Absprachen, sondern ein glücklicher Zufall wollte es, dass sich die beiden Hauptstadt-Bühnen, auf ihre jeweilige Art, nicht nur der Ödipus-Tragödie annahmen, sondern auch ein sicheres Gespür für die szenische Umsetzung bewiesen. (Dazu kommen in Berlin sogar noch eine trashig überschriebene Version des Stoffes fürs Parkdeck der Deutschen Oper und eine geplante und passend zuerst für Griechenland geplante Produktion der Schaubühne.)

Zunächst aber war Ulrich Rasche zum wiederholten Mal am Deutschen Theater zu erleben. Dieser konsequenteste Sprachdompteur seit Einar Schleefs Chor-Exerzitien setzte den Text von Sophokles (497/496–406/405 v. u. Z.) in der von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens eingerichteten Übertragung von Friedrich Hölderlin seiner Methode aus. Rasche bleibt auch in diesen fast drei pausenlosen Stunden ganz bei sich. Mit einer weiteren Variante, die Verse in eine permanente Bewegung (meistens mit Sidestep von rechts nach links) der Protagonisten zu übersetzen. Diesmal „nur“ auf der dauerrotierenden Drehbühne. Ganz ohne die großen Maschinen-Konstrukte oder Scheiben, die man aus früheren Arbeiten dieses Regisseurs kennt. Dabei ist die Wortmusik auch diesmal mit einer auf- und abschwellenden, live produzierten, von Nico van Wersch komponierte Klangwolke aus Keybord, Perkussion, Streicher und Synthesizer unterlegt, um so aus der Wucht der Sprache die Geschichte zu imaginieren. Da nahen sie dann, die wankenden Gestalten aus der Tiefe des Raumes, der Zeit und des diffusen Bühnennebels. Über ihnen schweben erst ein, später vier konzentrische Neon-Kreise, die neben ihrer Zahl auch Farbe und Lage verändern. Wenn über Ödipus die Katastrophe der Erkenntnis (oder die Erkenntnis als Katastrophe) hereinbricht und er sich selbst blendet, schweben sie wie ein einstürzender Himmel langsam auf den Protagonisten nieder und verschlingen ihn wie im Dunkel eines schwarzen Lochs. Wenn er wieder auftaucht ist er nackt und schutzlos. Die Suche des Ödipus (Manuel Hader) nach sich selbst ist hier ein Weg in die Hölle. Man sieht die Protagonisten immerfort durch den imaginären Raum schreiten. Beim Skandieren der Verse werfen sich die insgesamt neun Protagonisten meist die Bälle zu. Dabei gelingen ihnen trotz ihrer archaisch gleichen schwarzen Gewänder, die ihnen Clemens Leander verpasst hat, durchaus individuelle Porträtskizzen. Besonders Kathleen Morgeneyer als blinder Seher Teiresias, Elias Arena als Kreon und Almut Zilcher als Jokaste. Selbst wenn in diesem Fall eine kleine Lücke zwischen der Vorlage und der Methode Rasche bleibt – es ist wieder ein Sprechtheater als Rausch der Worte geworden! Man darf gespannt sein, wie er sie beim geplanten Opernregiedebüt (mit Strauss’ Elektra) schließen wird.

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An der Komischen Oper tags drauf hatte Sophokles in Gestalt der 1936 uraufgeführten vieraktigen Tragédie lyrique die grandiose Musik des Rumänen George Enescu (1881–1955) auf seiner Seite. Das (wieder in voller Besetzung angetretene) Orchester unter Generalmusikdirektor Ainārs Rubiķis ist in Hochform, die aus inhaltlichen, nicht pandemiebedingten Gründen im zweiten Rang platzierten Chöre ebenso. Ein handverlesenes Ensemble um den phänomenalen Oedipe von Leigh Melrose ist hier in einen spektakulär archaischen Bühnenraum gebannt. Ein grau silbermetallig schimmernder Kasten, der Palast und inneres Gefängnis sein könnte. Ein Wasserbecken in der Mitte. In der Höhe schwebt ein rätselhafter Lattenrost aus Neonröhren. Wenn Ödipus sich todesmutig den Fragen der Sphinx stellt und dadurch die Stadt rettet, dann entrollt sich dieses Objekt und korrespondiert mit der androgyn verfremdeten Erscheinung der dunkel fragenden Katarina Bradić. Schon zu Beginn kauert Ödipus am Rand und sieht von da aus der eigenen Geburt zu. Es ist ein gespenstisch öffentliches Ereignis, wenn Jocasta (Karolina Gumos) niederkommt. Der Neugeborene hat da schon den Kopf des Erwachsenen und die Gestalten um diese Geburt herum wirken eher wie die Insassen einer Irrenanstalt denn als ein Hofstaat. Eins ist klar: Hier stimmt etwas nicht. Von Anfang an. Ödipus ahnt das, erinnert sich daran, verdrängt es eine gewisse Zeit, aber entkommt dem Verhängnis nicht. Seine Größe besteht darin, letztlich zu sich selbst zu stehen. Trotz dieses Rahmens einer Erinnerung wird die Geschichte chronologisch erzählt.

Die aufwühlend packende Musik, die an vieles erinnert, vor allem aber für sich selbst steht, mündet am Ende, wenn Oedipe sozusagen blind sehend geworden ist und trotz aller Vergeblichkeit die Wände sauber zu wischen versucht, in einem kontemplativen Kontrast.

Barrie Kosky, der dem Schlussapplaus eine kleine Ansprache folgen ließ, hat mit der Auswahl des russischen Regisseurs Evgeny Tito (die kongeniale Bühne stammt von Rufus Didwiszus) erneut bewiesen, dass er es versteht, die richtigen Stücke mit den richtigen Regisseuren zusammenzubringen und so Musiktheater auf höchstem Niveau zu ermöglichen.

Es war ein Berliner Theaterwochenende, das in zwei exemplarischen Fällen hochmodernes Überwältigungstheater bot, das seine Aktualität nicht behaupten muss, sondern gleichsam von innen kommend beisteuert!