24. Jahrgang | Nummer 19 | 13. September 2021

Film ab

von Clemens Fischer

Die Eingabe von „Gunda“ in die Suchmaske von Google ergab beim Besprecher im Hinblick auf das Herkunftsland dieses Dokumentarfilms des russischen Filmemachers Victor Kossakovsky und auf die Besetzung des Films Verstörendes. Zum ersten Punkt wurde Ungarn ausgewiesen, zum zweiten wurden genannt: (Oscarpreisträger) Joaquin Phoenix und Gunda – der Mime aus den USA, da vorn platziert, also quasi als Hauptdarsteller. Tatsächlich handelt es sich jedoch um eine norwegisch-amerikanische Produktion, und der Veganer Phoenix fungierte lediglich als einer der Koproduzenten. Wer schon länger einen kritischen Blick auf Google hat, der dürfte darin einen Grund mehr sehen.

Doch zum Film selbst: Anderthalb Stunden nur mit einer Sau und ihren ständig herumwuselnden Ferkeln in „Kompaniestärke“, ein paar Hühnern, die aussehen wie von Dix gezeichnete Kriegsversehrte, sowie einigen Kühen – alles ohne Menschen, ohne Kommentar, ohne Handlung, ohne Musik, nur mit den Geräuschen, die die Tiere selbst und die Natur um sie herum von sich geben. Das Ganze in Schwarz-Weiß – das ist schon mal keinesfalls übliches Kino. Kossakovskys Einblicke in das Leben einer Familie von Hausschweinen unter Bio-Bedingungen, das heißt, weit jenseits der Barbarei industrieller Fleischproduktion, haben dabei durchaus etwas sehr Berührendes. Ob man allerdings gleich so weit gehen muss wie Cosima Lutz in der Welt – „Betörender wurden Borsten noch nie in Szene gesetzt […]“ – soll jeder Kinobesucher am besten selbst entscheiden. Dito, was andere Feststellungen und Wertungen aus dem Potpourri der Rezensionen quer durch die Medien anbetrifft, weitere emblematische Stilblüten inklusive:

  • „Zunächst heißt es durchhalten und minutenlange Studien vom Schwein – später auch vom Huhn, vom Rind – auf sich wirken zu lassen.“ (Dagny Lüdemann, DIE ZEIT)
  • „Gunda“ sei ein „Lebewesen, dessen Schmerz und ohnmächtige Verzweiflung gerade deswegen so herzzerreißend spürbar sind, weil dieses Schwein nicht abstrakt für das Leid von Tieren steht, sondern weil wir es kennengelernt haben als ein Wesen, das fühlt und träumt und bangt.“ (Lars Dolkemeyer, Kino-Zeit)
  • „Gunda ‚spielt‘ nicht im eigentlichen Sinn, und doch ist die Sau eine Charakterdarstellerin, die manche Schauspielerin blass aussehen lässt. Majestätisch leuchtet ihr haariges Profil im Gegenlicht, ihr Blick bleibt im Gedächtnis. Ihr massiger Körper strahlt Souveränität aus.“ Auch seien „intime Beobachtungen wie die der Ferkelgeburt entstanden, die aber so diskret gefilmt ist, dass die Schweinewürde gewahrt bleibt“. (Martina Knoben, Süddeutsche Zeitung)
  • „Gunda“ biete „vor allem große, ekstatische Filmkunst“ (Thomas Groh, Deutschlandfunk Kultur).

Im Übrigen herrscht bei den Rezensenten Einigkeit darüber, was im Film eigentlich zu sehen ist, nicht in jedem Falle. Während Dagny Lüdemann lediglich „das kleinste aller Ferkel“ wahrgenommen haben will, „das nach der Geburt einen Tritt der Mutter abbekommt und fortan humpelt“, wurde Thomas Groh Zeuge von etwas viel Dramatischerem: „[…] ein Ferkel […] quiekt ganz vergnügt, nur um schon wenig später unter Gundas heftigem Hufschlag jämmerlich zu Tode zu kommen. Unfall, Missverständnis, Absicht? Die Gründe bleiben unklar.“

„Gunda“, Buch, Regie, Kamera (mit Egil Haskjold Larsen) und Schnitt: Victor Kossakovsky. Derzeit in den Kinos.

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Der Demenzfilm erfreue sich „großer Beliebtheit“, stellte Kollegin Juliane Liebert in der Süddeutschen fest und untermauerte dies mit einem schlagenden Argument: „Wenn sich Til Schweiger und Michael Haneke auf ein Sujet einigen können, muss irgendwas dran sein.“ Ebenso gut hätte Sie anführen können, dass sich schon seit zwei Jahrzehnten eine Hollywood-Größe nach der anderen bereitfindet, „das Verwesen der Persönlichkeit bei lebendigem Leib“ zu spielen, wie Liebert den Verlauf von Demenz bildhaft treffend beschreibt: Erst Judy Dench („Iris“, 2001, Oscarnominierung als beste Hauptdarstellerin), dann Juliane Moore („Still Alice“, 2014, Oscar als beste Hauptdarstellerin), gefolgt von Donald Sutherland („Das Leuchten der Erinnerung“, 2017) und nun also Anthony Hopkins („The Father“, 2020, Oscar als bester Hauptdarsteller und für das beste adaptierte Drehbuch).

Zwar ist der dramaturgische Kniff von „The Father“, den Verlauf des tückischen Zerfalls einer Persönlichkeit in erster Linie aus der Perspektive des Betroffenen in Szene zu setzen, nicht neu. Das war bereits in „Still Alice“ so. Doch Drehbuch-Mitautor und Regisseur Florian Zeller ist nicht umsonst ein französischer Theatermann, der in seinem Heimatland als Dramatiker in einer Liga etwa mit Yasmina Reza spielt. Überdies, ob er nun Hitchcock inhaliert hat oder nicht, weiß er, was Suspense ist. Er verpasst dem Ganzen einen Drall, der den Film in die Nähe eines Psychothrillers rückt: Die Handlung wird überwiegend quasi aus dem Kopf des Protagonisten heraus auf die Leinwand projiziert, wobei die Cluster von dessen Alltagswahrnehmung immer weniger zusammenpassen, kein stimmiges Bild mehr ergeben, sondern ein zunehmend verstörendes. Und dieser Sachverhalt wird darüber hinaus von Anthony – die Filmfigur teilt mit ihrem Darsteller nicht nur den Vornamen, sondern auch den Geburtstag 31. Dezember – mit einem Rest von Realitätsbewusstsein immer mal wieder reflektiert, was Anthonys Irritationen und damit natürlich auch die des Zuschauers noch verstärkt. Wenn man bedenkt, dass dies Zellers Film-Debüt ist und er sein bis dato erfolgreichstes Theaterstück, das dem Streifen zugrunde liegt, bereits im Alter von 30 Jahren verfasst hat – Chapeau, Chapeau!

Zu Hopkins’ meisterlichem Spiel merkte ein anderer Rezensent an: „In seinen Augen sieht man das Verlöschen eines Lebens. Wie er das macht, bleibt sein Geheimnis.“ Der Großmime selbst macht daraus gar kein solches, er verriet einem Interviewer: „Je älter ich werde, desto klarer wird mir, dass man die Dinge nicht überanalysieren muss. […] Ich kenne meinen Verstand, ich weiß, wie die Welt funktioniert – sofern man das überhaupt wissen kann – also lege ich einfach los. Mit der Überzeugung: Das wird schon.“ Und es wurde – grandios.

„The Father“, Regie und Drehbuch (Mitautor): Florian Zeller. Derzeit in den Kinos.