21. Jahrgang | Nummer 2 | 15. Januar 2018

Film ab

von Clemens Fischer

Der Titel von Yorgos Lanthimosʼ neuestem Werk, „The Killing of a Sacred Deer“ (Die Tötung eines heiligen Hirsches), spiele auf Euripides und den Iphigenie-Stoff an, von dem der Regisseur sich habe inspirieren lassen, weiß Wikipedia.
Bekanntlich hatte der griechische König Agamemnon im heiligen Hain der Artemis eine Hirschkuh erlegt und damit die Göttin erzürnt, die daraufhin die Flotte der Griechen an der Fahrt nach Troja hinderte. Dem König wurde geweissagt, dass allein ein Blutopfer, konkret das Hinschlachten seiner eigenen Tochter Iphigenie, die Sache wieder richten könnte, und der kriegslüsterne Vater tat, was ihm geheißen.
Das ist die eine Version der Geschichte. In einer zweiten, der des Humanisten Euripides, aber entrückte Artemis das Mädchen ins Land der Taurer, wo es fortan im Heiligtum der Göttin als Priesterin diente.
Welch ein Stoff.
Und welch ein Stuss bei Lanthimos.
Das beginnt schon damit, dass dessen Agamemnon ein Herzchirug mit Alkoholproblem ist, der vor einer OP einen Drink zu viel kippt und sich anschließend letal vertut. Dass dieser Part von Schönling Colin Farell gegeben wird, macht die Sache nicht besser. Und auch eine komplett nackte Nicole Kidman kann den drögen Plot nicht retten, der 121 endlose Minuten braucht, bis der Abspann der Langeweile endlich den Stecker zieht.
Ein „blutiges Moralstück“ meinte ein Kritiker gesehen zu haben, und im Hinblick auf „blutig“ soll ihm da auch gar nicht widersprochen werden. Die „Moral“ jedoch reicht gerade einmal bis zum alttestamentarischen Racheklassiker „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Killing inklusive. Also nix mit Euripides. Das macht die Pointe des Films zwar makaber, aber voraussehbar platt bleibt sie deswegen trotzdem. Vielleicht hätten die Filmemacher mal bei Altmeister Stephen King nachschauen sollen, wie man aus der Grundsituation – jemand verursacht schuldhaft den Tod eines Menschen und muss mit unentrinnbarer Schicksalhaftigkeit den Höchstpreis dafür entrichten – eine packende Geschichte macht. Der hat das unter seinem literarischen Alter Ego Richard Bachmann in „Thinner“ (deutsch etwas einfallslos „Der Fluch“) ganz gut hinbekommen.
„The Killing of a Sacred Deer“, Regie: Yorgos Lanthimos. Derzeit in den Kinos.

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„Loving Vincent“ sei, so heißt es auf der Homepage des Films, „the worldʼs first fully painted feature film“. Und auf so eine Idee muss man erst mal kommen: einen Animationsfilm aus 65.000 Gemälden (Öl auf Leinwand) über die letzte Lebens- und Schaffensphase des zu seinen Lebzeiten komplett verkannten Malergenies Vincent van Gogh in Auvers-sur-Oise bei Paris zu komponieren und die Motive für die Gemälde dessen Spätwerk zu entlehnen – quasi ein Diktum des Malers in einem Brief an seinen Bruder Theo wortwörtlich nehmend: „Wir können nur durch unsere Bilder sprechen.“
Insgesamt 125 Künstler waren am Werk, um diesen einzigartigen, ob seiner optischen Opulenz hinreißenden Streifen entstehen zu lassen. Mit dabei auch das Porträt von van Goghs Arzt Paul-Ferdinand Gachet – das mutmaßlich einzige Bild, das der Maler je verkaufte und das 1990 schließlich für 82,5 Millionen Dollar den Besitzer wechselte. Dass die als Krimi aufgezogene Geschichte des Films da bei weitem nicht mithalten kann, stört im Übrigen kaum. Erzählt wird jene Fassung vom Tode van Goghs, die die Autoren Steven Naifeh und Gregory White Smith im Jahre 2011 in Umlauf gesetzt haben: dass sich der Maler die Schussverletzung, an der er am 29. Juli 1890 verstarb, nicht selbst beigebracht habe, sondern von Dritten vorsätzlich oder aus Versehen angeschossen worden war und dass er die jugendlichen Täter gedeckt habe.
„Loving Vincent“, Regie: Dorotea Kobiela, Hugh Welchman. Derzeit in den Kinos.

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Das Thema Demenz ist schon des Öfteren über die Kinoleinwände geflimmert. Da dämmerten etwa Judy Dench („Iris“, 2001) und später Juliane Moore („Still Alice“, 2014) davon. Nun also ein reichlich verwitterter Donald Sutherland, der, 82-jährig, zu seiner Rolle bemerkte: „Ich bin ganz froh, dass ich mich nie habe liften lassen, denn sonst wäre mir ‚Das Leuchten der Erinnerung‘ sicherlich entgangen.“
Herausgekommen ist ein tragisches Roadmovie, immer wieder aber auch voller (was den Betroffenen angeht, natürlich unfreiwilliger) Komik. Das Lachen bleibt einem allerdings manches Mal im Halse stecken – angesichts der vorherrschenden allgegenwärtigen Ohnmacht und Einsamkeit am Ende eines langen Lebens.
Zugleich könnte kann man sich in diesem Falle am Schluss durchaus fragen, was einem da eigentlich für eine lebensfremde Story aufgetischt worden ist: Welche hochbetagte Ehefrau mit Krebs im Endstadium ginge derart (überwiegend) liebe- und verständnisvoll mit den im Alltag am laufenden Band auftretenden und total nervenden Aussetzern ihres Gatten um? Allerdings tut Helen Mirren dies auf eine Art und Weise, dass man wünschte, das Leben könnte auch in der Realität so sein.
In der letzten Einstellung des Films werden die Erdmöbel mit den beiden Alten schließlich zu Klängen aus deren Jugendzeit versenkt, nämlich zu „Me and Bobby McGhee“ in der Fassung der unsterblichen Janis Joplin – einer Hymne der Hippie Generation, die das Paar schon zuvor während der Fahrt mit seinem klapprigen Camper inbrünstig mitgesungen hatte –, was man hier als Andeutung nehmen kann, dass die Beiden vielleicht nicht von Anfang an auf dem direkten Weg in jenes biederbürgerliche Mittelstandseinerlei waren, aus dem sie zu ihrer letzten Fahrt aus- und aufgebrochen sind. Aber was wäre die Alternative gewesen?
„Das Leuchten der Erinnerung“, Regie: Paolo Virzi. Derzeit in den Kinos.