24. Jahrgang | Nummer 20 | 27. September 2021

Ein Schweizer in Berlin

von Wolfgang Brauer

Die Berlinische Galerie beginnt die neue Saison mit einem Paukenschlag: Mit „Ferdinand Hodler und die Berliner Moderne“ präsentiert sie allein 48 Arbeiten des Schweizers, darunter etliche Hauptwerke. So umfangreich war Ferdinand Hodler (1853–1918) in der Stadt zuletzt 1983 in (West-)Berlin zu sehen!

Das Besondere: Keine einzige Hodler-Arbeit befindet sich im Bestand der „Berlinischen“. Lediglich das großformatige „Einmütigkeit. Der Redner“ (1912/1913) stammt aus der Sammlung der Nationalgalerie. Die meisten Bilder kommen aus schweizerischen Museen. Ohne eine intensive Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Bern wäre die Schau nicht zustande gekommen. Respekt! Leihgaben aus deutschen Museen und aus Privatbesitz kommen dazu. Dass die Ausstellung überhaupt in der Berlinischen Galerie stattfindet, ist erklärungsbedürftig. Hodler hat nie in Berlin gelebt, keine einzige seiner Arbeiten ist in der Stadt entstanden. Dennoch, „Hodler gehört zu Deutschland wie Gottfried Keller“, zitiert der – übrigens bemerkenswerte – Katalog eine Besprechung des Kunstkritikers Hans Kaiser vom März 1911 in den Berliner Neuesten Nachrichten. Mit Deutschland meint Kaiser vorzüglich Berlin. Auch wenn die großen monumentalen Arbeiten „Einmütigkeit“ („Der Schwur“) für das Neue Rathaus Hannover und das berühmte „Auszug der Jenenser Studenten in den Freiheitskrieg 1813“ (1908/1909) für die Universität Jena zu den wichtigsten – und künstlerisch sicher interessantesten – Historienbildern des späten Kaiserreiches gehören, Ferdinand Hodler war in Berlin fest verortet.

Das hat mit seiner Dauerpräsenz in der Berliner Ausstellungs- und Galeristenszene zu tun. Erstmals taucht im April 1898 eine Hodlersche Arbeit in der „Großen Berliner Kunstausstellung“ auf. Es handelte sich um das skandalumwitterte Bild „Die Nacht“ (1889/1890). In Genf musste das Gemälde 1891 wegen seiner für calvinistische Kunstrichter zu freizügigen Aktdarstellungen aus der „Exposition municipale“ entfernt werden – das PR-Genie Hodler nutzte diesen Umstand dann für eine äußerst geschickt eingefädelte Europa-Tournee des Bildes. Danach hatte er über die Grenzen der Schweiz hinaus einen Namen. Und seit 1898 war er in Berlin zu seinen Lebzeiten auf mindestens 40 Ausstellungen vertreten. 13-mal allein auf den Ausstellungen der Berliner Secession, deren korrespondierendes Mitglied er 1900 wurde. 1911 wurde er sogar Ehrenmitglied. Allerdings flog er 1914 raus. Während des Krieges war er im Deutschen Reich offiziell eine Unperson. Ferdinand Hodler gehörte zu jenen 120 Intellektuellen und Künstlern, die im September 1914 im „Genfer Protest“ die Beschießung der Kathedrale von Reims durch deutsche Truppen als „Akt der Barbarei“ brandmarkten. Wenn man genauer hinsieht, ist übrigens auch „Der Auszug der Jenenser Studenten“ so pathetisch-patriotisch nicht, wie es dem Bild in jahrzehntelanger Interpretationstradition unterstellt wird. In Berlin ist es nicht zu sehen. Jena hat es bislang nur ein einziges Mal verlassen – 2018 zur großen Hodler-Schau der Bundeskunsthalle in Bonn. Mit Berlin hat es auch nichts zu tun.

Und da sind wir beim Leitgedanken der Schau. Die Kuratorinnen Stefanie Heckmann und Janina Hentwig beschränkten sich auf Werke, die zumeist zwischen 1898 und 1914 schon einmal in Berlin zu sehen waren. Herausgekommen ist eine Bildauswahl, die den Werdegang des großen Symbolisten und Pathetikers Hodler deutlich werden lässt – aber auch seine Verortung im Umfeld der entstehenden Moderne. Besucher, die vor dem Gang in die eigentliche Ausstellung in der Haupthalle die spannenden biografischen Hinweise studieren, werden beim Durchblick in den zentralen Saal der Sonderausstellung stutzen. Klimt? Nein, das ist Hodler, das lebensgroße „Bildnis Gertrud Möller“ (1911), seiner bedeutenden Sammlerin und guten Freundin. In diesem Saal werden die Bilder des Künstlers übrigens mit Werken konfrontiert, denen sie in den Berliner Ausstellungen um die vorvorige Jahrhundertwende schon einmal begegnet waren: Lovis Corinth, Walter Leistikow, Benno Berneis. Dazu Plastiken von Georg Kolbe, Ernesto de Fiori und Louis Tuaillon.

Deutlich wird Hodlers solitärer Beitrag zur Moderne im Vergleich – zum Beispiel seines Kinderbildes „Bezauberter Knabe“ (um 1909) mit Fritz von Uhdes liebenswerter „Kinderstube“ (1889) oder gar zu Sabine Lepsius’ Porträt der Tochter Monica (1900), das stilistisch noch tief im 19. Jahrhundert zu wurzeln scheint, wiewohl auch das Lepsiussche Bild von Mode gewordener psychologischer Durchdringung lebt. Wie radikal Ferdinand Hodler auf dem Höhepunkt seines Schaffens beginnt, die rein symbolistische Interpretation seiner Sujets zu überwinden und zu einem der Wegbereiter expressionistischen Sehens wird, zeigen auch zwei nebeneinander hängende Tänzerinnenbilder: Eugen Spiros „Tänzerin Baladine Klossowska (Merline)“ (1901) und Hodlers „Fröhliches Weib“ (um 1911). Das sind nicht nur Zeugnisse eines ästhetischen Wandels, hier ändert sich – vermittelt über die Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Tanz – Weltsicht sehr grundlegend.

Und dann kommen die spannenden Portraits. Die Frauen! Und dann der Höhepunkt: Der Rundgang endet im Saal mit den einander gegenüberhängenden, die Grenze zum Monumentalen fast überschreitenden Gemälden „Die Nacht“ (1889/1890) und „Der Tag“ (1899/1900). Flankiert werden die von „Die Lebensmüden“ (um 1892) und „Heilige Stunde“ (1911). Gegenüber hängen die Alpenlandschaften, Belege des Hodlerschen „Parallelismus“. In sprachlos machendem, kristallin-azurnem Blau aus dem Jahr 1904 der Thuner und der Genfer See. Die Landschaften lindern einen merkwürdigen Eindruck. Während „Die Nacht“ – man muss schon einen Calvinschen Blick haben, um das Bild als obszön zu empfinden – am Anfang einer Entwicklung steht, scheint diese mit dem „Tag“ ihren Höhepunkt erreicht zu haben und mit der „Heiligen Stunde“ in die Erstarrung eingetreten zu sein. Da ging etwas zu Ende. Da waren nur noch die Alternativen Fidus oder Beckmann. Die expressionistische Eruption war zwingend. Hodlers Einflüsse auf diese sind neben denen Edvard Munchs – der nun tatsächlich in Berlin gearbeitet hat – und denen Gauguins und van Goghs unübersehbar.

Ich bin der Berlinischen Galerie dankbar, dass sie den Kunstfreunden der Stadt diesen faszinierenden Einblick in ein Werk ermöglicht, mit dem sich eine vertieftere Auseinandersetzung unbedingt lohnt. Ein ganz großer Wurf – und vorzüglich gehängt!

Ferdinand Hodler und die Berliner Moderne: Berlinische Galerie. Landesmuseum für moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Alte Jakobstraße 124-128, 10969 Berlin, bis 17. Januar 2022, Mi–Mo 10–18 Uhr; Katalog im Wienand Verlag.