Wer heute im mittleren Alter ist, kennt die blutigen Geschehnisse vielleicht durch John Frankenheimers Film „Against the Wall“ von 1994, viele Ältere erinnern sich an die dramatischen Tage zwischen dem 9. und dem 13. September 1971, die sie in den USA am Fernsehschirm oder in der Presse (auch in der DDR) verfolgten: Vor fünfzig Jahren übernahmen rund 1200 Gefangene zeitweilig die Kontrolle über einen Teil des Hochsicherheitsgefängnisses in Attica im Nordwesten des US-Bundesstaates New York. Sie nahmen 42 Gefängniswärter als Geiseln. Der Attica-Aufstand war Reaktion auf die unmenschlichen Bedingungen des Gefängnisses. Schlaglichtartig beleuchtete er die lange verborgene Tatsache, dass sich in den Haftanstalten – ungleich brutaler als irgendwo sonst – die sozialdarwinistische Klassengesellschaft der USA widerspiegelte.
Das 1931 erbaute Gefängnis war für 1600 Gefangene ausgelegt, doch 1971 saßen über zweitausend Häftlinge ein. 54 Prozent von ihnen waren Afroamerikaner, neun Prozent Puertoricaner, 37 Prozent Weiße. Für einen Tageslohn von weniger als einem Dollar durften sie für acht Stunden ihre Zellen zur Arbeit im Gefängnis verlassen, die übrige Zeit waren sie in den überbelegten Schlafstätten eingesperrt. Nur einmal in der Woche durften sie duschen, pro Monat erhielten sie eine (!) Rolle Toilettenpapier und ein Stück Seife. Chancen der Ausbildung oder Maßnahmen zur Resozialisierung gab es nicht. Der Postzugang war ebenso eingeschränkt wie die Möglichkeit, Bücher oder Zeitungen zu lesen. Die Verpflegung entsprach ebenso wenig dem gesetzlichen Mindeststandard wie die medizinische Versorgung. Es gab nicht einen einzigen psychologischen Betreuer. Die beiden Gefängnisärzte verabreichten den Gefangenen, die kein Englisch sprachen, routinemäßig zwei Aspirin-Tabletten pro Tag als einziges Mittel gegen alle Krankheiten.
Viele schwarze und puertoricanische Gefangene sahen sich als politische Gefangene – was sie indirekt oft waren: Die eklatante Benachteiligung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens hatte sie viel schneller auf die schiefe Bahn kommen lassen als viele Weiße. Zudem litten sie unter rassistischen Schikanen der fast ausschließlich weißen Wachmannschaften.
Den Regierungsstellen war all das nicht unbekannt: Warren Burger, Oberster Richter der Vereinigten Staaten und damit Dienstvorgesetzter aller Bundesrichter, nannte damals das Gefängniswesen den am schlechtesten verwalteten Zweig des Staates. Die Vollzugsbeamten der Justiz, mit 6000 Dollar Jahreseinkünften weit unterdurchschnittlich bezahlt, sahen vor allem in den schwarzen Häftlinge Bestien, ebenso wie diese in den Polizisten.
Doch in Attica suchten die Gefangenen ihre Lage durch Selbstorganisation zu verbessern und gründeten die Attica Liberation Front als Interessenvertretung. Der Name zeigt das damals hoch politisierte Klima unter ethnischen Minderheiten in den USA. Zu den wichtigen Forderungen, die sie der Gefängnisleitung im Mai 1971 überreichten, gehörte die nach Unterstützung beim Selbststudium, um nach ihrer Freilassung als community organizers (Gemeindearbeiter) tätig zu werden. Doch Gefängnisleiter Russel G. Oswald antwortete ihnen nicht einmal, schickte später lediglich ein Tonband mit nichtssagenden Floskeln.
Am 21. August 1971 wurde der Afroamerikaner George Jackson, ursprünglich ein Kleinkrimineller, der sich im Gefängnis mit dem Sozialismus vertraut gemacht und der Black Panther Party angeschlossen hatte, während eines Fluchtversuchs und anschließender Schießerei im kalifornischen San Quentin State Prison erschossen. Als sich die Nachricht im Attica-Gefängnis verbreitete, entstand die Idee einer Protestbewegung, zuerst in Form organisierter Hungerstreiks, die am 9. September in eine offene Revolte hinüberwuchsen.
Ein Gefangener berichtete: „Wir kehrten vom Speisesaal zurück. Die Spannung war explosiv. Als ein Wächter jemanden aus der Reihe zog, schnappten wir ihn und danach noch ein paar andere. Wir stellten sie an die Mauer und nahmen ihnen die Knüppel weg. Diejenigen mit Führungstalent begannen die Dinge zu organisieren. Überall wurden Posten aufgestellt, wir übernahmen die Werkstätten und befreiten die Gefangenen in Einzelhaft. Wir pochten Löcher in die Wände, um Zugang zu anderen Abteilungen zu bekommen. Wir nahmen die Geiseln und steckten sie in Zellen. Manche von uns waren Wächter, andere organisierten das Essen. Jeder hatte eine Aufgabe. In Attica kommt man an einen Punkt, an dem man nicht mehr an die Konsequenzen denkt. Hier drinnen waren wir ohnehin so gut wie tot.“
Die Attica Liberation Front wandte sich mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit. „Wir sind Menschen“, hieß es darin. „Wir sind keine Bestien und wir wollen nicht wie Bestien geschlagen oder behandelt werden. Die gesamte Gefängnisbelegschaft, das heißt jeder Einzelne von uns hier, hat sich vorgenommen, die rücksichtslose Verrohung und die Missachtung des Lebens der Gefangenen hier und in den gesamten Vereinigten Staaten für immer zu ändern. Was hier geschehen ist, ist nur der Lärm, der der Wut der Unterdrückten vorauseilt. Wir werden keine Kompromisse eingehen, es sei denn, sie sind für uns akzeptabel. Wir haben alle verantwortungsbewussten Bürger Amerikas aufgerufen, uns dabei zu helfen, dieser Situation ein Ende zu setzen, die nicht nur unser Leben, sondern auch das jedes Einzelnen von ihnen bedroht.“
Während der folgenden viertägigen Verhandlungen stimmten die Behörden 28 Forderungen der Gefangenen zu, nicht aber den Forderungen nach einer vollständigen Amnestie für die Übernahme des Gefängnisses und nach der Absetzung des Gefängnisdirektors. Auf Anordnung des New Yorker Gouverneurs Nelson Rockefeller nahm die mit Tränengas, Gewehren und Maschinenpistolen ausgerüstete Staatspolizei am 13. September das Gefängnis nach blutigen Kämpfen ein. 43 Menschen verloren ihr Leben. Unter ihnen waren 33 Häftlinge sowie zehn Justizvollzugsbeamte und Zivilangestellte.
Gouverneur Rockefeller und die Gefängnisleitung behaupteten, die Geiseln seien von den Gefangenen getötet worden. Doch verfügte keiner der Gefangenen über eine Schusswaffe. Spätere Untersuchungen ergaben, dass nur der Tod eines Beamten und dreier Insassen den Gefangenen zugeschrieben werden konnte.
Nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands kam es in Gefängnissen in den gesamten Vereinigten Staaten zu Protesten und Unruhen. Innerhalb von vier Jahren wurden 62 Attica-Häftlinge in 42 Prozessen in 1289 einzelnen Punkten angeklagt. Demgegenüber wurde gegen einen einzigen Polizisten wegen fahrlässigen Verhaltens Anklage erhoben, gegen zwanzig weitere wurden Disziplinarverfahren eröffnet.
Die Proteste gegen diese Ungleichbehandlung waren enorm. Bob Dylan und John Lennon verschafften ihnen mit ihren Songs „George Jackson“ und „Attica State“ weltweite Aufmerksamkeit. Später erinnerten auch Judy Collins und Paul Simon an das blutige Ereignis. Im Dezember 1976 begnadigte Hugh Carey, Rockefellers übernächster Nachfolger als Gouverneur von New York, alle Insassen, die sich zuvor schuldig bekannt hatten, um eine geringere Strafe zu erhalten. Er reduzierte die Strafen der bereits vor Gericht verurteilten Gefängnisinsassen. Carey stellte auch die anhängigen Disziplinarverfahren gegen die Vollzugsbeamten ein und erklärte „das Buch Attica als geschlossen.“ In der Tat hatten sich die Haftbedingungen in Attica inzwischen deutlich verbessert. Nicht geschlossen wurde jedoch das Buch über andauernde Missstände im Gefängniswesen der USA, wie erst kürzlich die Streiks der Gefangenen auf Rikers Island, der Zuchthausinsel im East River inmitten von New York, zeigten.
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