Dass auch noch das Afghanistan-Desaster mit eigenem Zutun daran in ihre Amtszeit fiel … wirklich, davon war nicht auszugehen. Alle „Prognosen“ standen günstig und lagen doch so was von daneben. Ehe dann doch noch Merkel Kränze gewunden werden nach ihrem Abgang von der politischen Bühne, will ich meine Bilanz ihrer Kanzlerschaft ziehen.
Unstrittig: Merkel hat der CDU über Jahre die Macht gesichert – parteipolitisch ihre große Leistung; aber was heißt das für unser Land? Nicht viel, denn Machterhalt in einer Demokratie ist per se „leer“, wenn er nicht mit Inhalten gefüllt ist.
Das Land ist heute gespalten wie nie, ist schlecht, weil umständlich und ineffizient verwaltet, hat unübersehbar eine marode Infrastruktur und hat beim Umweltschutz, in der Digitalisierung sowie im Sozialbereich riesigen Reformstau. Dieses Fazit steht nur vermeintlich im Widerspruch zu den Umfragen, die bis heute zeigen, dass Merkel die beliebteste Politikerin des Landes ist.
Merkel engagierte sich 1989/90 politisch im „Demokratischen Aufbruch“, sie wurde dessen Pressesprecherin. Nach einem Intermezzo als stellvertretende DDR-Regierungssprecherin saß sie schon ab Ende 1990 für die CDU im Bundestag und wurde von Kohl zur Ministerin für Frauen und Jugend gemacht – „Kohls Mädchen“. Im Dezember 1991 wurde sie als Nachfolgerin des „glücklosen“ Lothar de Maizière zur ersten stellvertretenden Vorsitzenden der Bundes-CDU gewählt; ein rasanter Aufstieg. Betrachter der politischen Szene attestierten ihr schon damals ausgeprägten Machtinstinkt und einen beharrlich-nüchternen Stil. 1994 übernahm Merkel das Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Bald musste sie sich mit Atomkraftgegnern auseinandersetzen, die den Bau eines Zwischenlagers stoppen wollten. Es offenbarte sich ein zweiter Charakterzug Merkels: Sie vermied offensives Vorgehen, sie versuchte, die konträren Positionen zusammenzuführen.
Nach der für die CDU verlorenen Bundestagswahl 1998 fand sich für Merkel schnell wieder eine Verwendung – im November 1998 wurde sie vom neuen Vorsitzenden Wolfgang Schäuble zur Generalsekretärin gemacht. Während der Parteispendenaffäre um Altkanzler Kohl kündigte sie ihrem Übervater und Förderer die Loyalität. Auch Schäuble geriet Anfang 2000 in den Strudel der Affäre und – schwubs – stieg Merkel im April 2000 zur neuen CDU-Vorsitzenden auf; damit war der Weg zum Kanzleramt grundsätzlich geebnet.
Für das in Rede stehende Amt schlug Merkel Pflöcke ein: Auf dem CDU-Parteitag 2003 ließ sie eine radikale Vereinfachung des Steuersystems und die Einführung einer „Kopfpauschale“ im Gesundheitswesen beschließen; ein neoliberales Programm, Marktwirtschaft pur. Acht Jahre später – in Merkels zweiter Kanzleramtsperiode – der 180-Grad-Schwenk: Die CDU-Chefin findet plötzlich Lohnuntergrenzen gut und kann der Bändigung der Marktkräfte etwas abgewinnen. Der Grund: Die marktradikale Merkel ging bei der Bundestagswahl 2005 gehörig baden. Statt der prognostizierten absoluten Mehrheit reichte es nur für die große Koalition. Die oberste Christdemokratin beherzigte „ihre“ Lehre, dass sie mit einem radikalen Programm Wahlen nicht gewinnen könne.
Alles in allem haben wir jetzt die „fertige“ Merkel vor uns: Gewiefte Taktikerin der Macht, keine Visionärin, ohne Strategie, pragmatisch-opportunistisch, vermittelnd denn zuspitzend, nichts riskierend. Ein Grande aus der CSU sagte es so: „Merkel ist Weltmeisterin im politischen Wellenreiten“. Mit diesen Eigenschaften avancierte sie zur Umfragefavoritin der Deutschen, denen es immer am liebsten ist, wenn alles so bliebe, wie es ist.
Ihr größtes politisches und damit entscheidendes Sakrileg war die Einführung der Schuldenbremse; vulgo der Schwarzen Null ab 2014. Ich schreibe bewusst „politisches“ und nicht – was scheinbar näher läge – wirtschafts- oder finanzpolitisches. Wie angedeutet, beugte sich Merkel stets wenn nicht dem Zeitgeist, so doch den Umfragewerten und der Wahlarithmetik. Die legten bald nahe, dass die konservativen Stimmen „auf dem flachen Lande“ für Wahlsiege oder auch nur machtsichernde Wahlergebnisse nicht (mehr) ausreichten; also mussten auch urbane Milieus – generell schwächelt die Union dort – gewonnen werden. Merkel akzeptierte daher soziale Entwicklungen, die sowieso anstanden, wie den Niedergang der traditionellen Alleinverdiener-Ehe, die Vermehrung von Kitaplätzen, die Homo-Ehe. Später wurde die Wehrpflicht ausgesetzt und nach einigem Hickhack der schon von Rot-Grün ausgehandelte Atomausstieg vollzogen. Der in der Union „anschwellende Bocksgesang“ wurde mit jedem dieser Vorhaben lauter; was tun? Im Katalog deutscher Tugenden steht Sparen ganz oben – da haben wir´s! An dieser „Spar-Flamme“ (ich bitte um Entschuldigung für diesen Kalauer) konnten sich die Konservativen wärmen…
Die eingangs aufgeführten Schwächen unseres Staatswesens wie mangelhafte Verwaltung, marode Infrastruktur und ein Reformstau nahmen damit nicht ihren Anfang, erfuhren jedoch eine deutliche Verschärfung: lieber Schulden abbauen als in Straßen, Schulen oder Kommunikationsnetze investieren. Oft reichten die öffentlichen Mittel nicht einmal aus, den Verschleiß der staatlichen Infrastruktur aufzuhalten. „Kaputt gespart“ wurde zum geflügelten Wort. Um nur eine Zahl zu nennen: Der Investitionsstau im bestehenden (!) Bahnnetz beziffert sich auf 30 Milliarden Euro. Das Merkel’sche Wortgeklingel konnte schriller nicht sein; von „Gerechtigkeit zwischen den Generationen“ war die Rede, im Sparen sehe sie den „beste[n] Beitrag […], den wir für die Jungen, die Kinder und Enkel leisten können“. Ich denke, dass gerade die „Jungen, Kinder und Enkel“ bei Merkels heutigem Eingeständnis aufhorchen, dass in der Umweltpolitik „nicht ausreichend viel passiert“ sei. Ein Offenbarungseid, eine zynische Untertreibung angesichts der Menschheitsbedrohung. Zusätzlich erleben die Jungen täglich, was es praktisch heißt, dass im Schulbereich über die Jahre ein Fehlbetrag von 46,5 Milliarden Euro aufgelaufen ist.
Nüchterne ökonomische Fakten zeigen: Deutschlands Ökonomie verlor über die Merkel-Jahre hinweg zunehmend an Schwung und Anschluss, das Investitionsklima verschlechterte sich namentlich während ihrer vierten Amtsperiode und Deutschland rutschte so auf Platz 22 ab; weit hinter Großbritannien oder gar Norwegen. Aber selbst wo heute öffentliche Investitionsmittel bereitstehen, scheitert deren Einsatz häufig an mangelnden Planungskapazitäten, deren Abbau auch mit dem Sparen einherging; ein Teufelskreis: Die Schwarze Null ist das andere Wort für den Modernisierungsstau.
Eine ebenso folgenreiche Hinterlassenschaft der Merkel-Jahre stellt das Sozialsystem dar. Anstatt die Renten-, Kranken- und Pflegekassen rechtzeitig auf die ob der demografischen Entwicklung des Landes abzusehenden finanziellen Engpässe vorzubereiten, bedienten Merkels Koalitionskabinette lieber die eigene Wählerklientel. Und konsumtive Ausgaben sind per Gesetz gesichert, haben also Vorrang vor Investitionen. Und dass die Reichen auch hierzulande immer reicher und die Armen… und so weiter ist keine linke Propaganda, sondern wurde durch einschlägige Steuer- und Sozialpolitik der Merkel-Ära maßgeblich befördert: „Der Sozialstaat diskriminiert Jüngere und Frauen systematisch“ – so der Ökonom Thomas Straubhaar.
Nervenstark und ausdauernd zeigte sich Merkel auf der außenpolitischen Bühne; wohltuend hob sich ihre Art von der ihrer „breitbeinigen Kollegen“ ab. Aber namentlich ihre europapolitische Bilanz ist dürftig. Es gelang in ihrer Ägide nicht, eines der wichtigsten Probleme zu lösen, nämlich die fragile Währungsunion zukunftsfähig zu machen. Im Grunde ist Europa über die Finanzordnung von Maastricht 1992 bisher nicht hinausgekommen. 2015 ließ eine empathische Merkel die Grenzen angesichts eines riesigen Flüchtlingsstroms nicht schließen und munterte die Menschen hierzulande mit einem „Wir schaffen das“ auf, sich für die Immigranten zu engagieren. Sie selber überließ das Ganze seinem Lauf. Sie wurde auch nicht tätig, als die EU sich in Kaufverhandlungen mit den Covid-19-Impfstoffherstellern verstrickte, und das, obwohl Deutschland die europäische Ratspräsidentschaft innehatte. Und ihre Amtszeit endet damit, dass sich ihre Regierung in Sachen Afghanistan eine „Verantwortungsdiffusion und Blockaden zwischen den Ministerien“ zuschreiben lassen muss.
Wenn ich ein abschließendes Fazit ziehe, dann dieses: Merkel regierte stets im Hier und Jetzt, die Zukunft war ihr gleichgültig. Was – wenn ich nicht fehl gehe – umso bemerkenswerter wäre, da die Medien seit Jahren nicht müde werden, folgende Sentenz zu verbreiten: „Als Physikerin denkt sie die Dinge vom Ende her.“ Es bleibt die rhetorische Frage: War ihre Politik auch vom Ende her gedacht?
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