Dieser Tage erscheint eine Sammlung von Dokumenten und Analysen zur mehr als 40-jährigen Tätigkeit des Berliner Regisseurs Heinz-Uwe Haus im griechischsprachigen Theater. Deutlich wird, wie diese Arbeit die professionelle Entwicklung des Theatermachers geformt hat. Erstmalig werden alle Hausschen Inszenierungen und ihre Rezeption im ästhetischen und kulturpolitischen Zusammenhang vorgestellt: vom legendären „Kaukasischen Kreidekreis“ von Brecht 1975 bis zu Ibsens „Die Frau vom Meer“ 2017, beides Produktionen mit dem zyprischen Staatstheater THOK. Etwa 20 Aufführungen auf Bühnen in Nicosia, Athen, Thessaloniki, Agrinion, Kalamata, Patras, Oiniades und Paphos sowie Gastspiele und Koproduktionen in Griechenland, der DDR und im vereinten Deutschland kommen erneut in Erinnerung. Manche ehemaligen Leser der Weltbühne, der notate des Brecht-Zentrums, des Sonntags, der Neuen Zeit oder der Berliner Zeitung werden sich möglicherweise noch an Kritiken und Berichte über die eine oder andere erfolgreiche Inszenierung erinnern. Für lange Zeit war Haus der erste und einzige Regisseur aus der DDR, der in beiden Staaten eine Spitzenposition errungen hatte und dessen Inszenierungen als „richtungsweisend“ (Christakis Georghiou) aufgenommen wurden.
Nun liegt in acht Kapiteln eine einzigartige theatergeschichtliche und kulturpolitische Bestandsaufnahme vor, die nicht nur für Theaterschaffende und -publikum in Zypern und Griechenland von Interesse ist. Das Buch bündelt Themen und Diskurse, die heute wieder auf der Tagesordnung stehen und Debatten bestimmen.
Gemeinsam mit Co-Herausgeber Daniel Meyer-Dinkgräfe, unterstützt durch Costas Hadjigeorgiou, gelingt es Haus, vor allem mit dem Rückblick in die bahnbrechende Brecht-Rezeption durch seine Arbeiten von Mitte der Siebziger bis Ende der Achtziger dringend notwendige Anstöße für die gegenwärtige Diskussion zur zukünftigen Theaterentwicklung in der westlichen Welt zu geben. Das betrifft Fragen sowohl der dramaturgischen Praxis als auch der gesellschaftlichen Haltung. „Wie gehen wir angesichts der verwirrenden Komplexität der Wirklichkeit mit Wahrheit, Wissen und Macht um, wenn unsere Abbildungen ‚eingreifende Wirkung‘ (Brecht) haben sollen?“, fragt der Schauspieler Neophytos Neophytou im Rückblick.
Zu den Autoren des Buches gehören zahlreiche Prominente der griechischen, zyprischen und internationalen Kritik und Kultur: Petros Markaris, Despina Bebedeli, Neophytos Neophytou, Stelios Kafkarides, Aspassia Papathanassiou, Glyn Hughes, Afir Stojanowa, Klaus M. Schmidt, Daniel Meyer-Dinkgräfe, Theodore Grammatas, Andri Constantinou, Claudine Elnecave, William Browning, Christakis Georgiou, Günther Rüther, Andy Bargilly, Guy Stern, Klaus Dieter Winzer und Elke Wedel. Sie stellen Denkrichtungen, Narrative, Theorien und Kontroversen vor, die sämtlich versuchen, Geschichtsvergessenheit, Zukunftsblindheit und Resignation zu entgehen. Sie eint die gemeinsame Erfahrung des Brechtschen „Gebrauchswertes“, seines „eingreifenden Denkens“ und die Bewusstwerdung der Widerspruchsdialektik im schauspielerischen Prozess. Das Buch ist wie ein weites Feld rationaler Argumentation, auf der die Lust auf Veränderung wächst. Die Autoren scheinen sich einig in der Absicht, produktive Unruhe zu stiften.
Die zeitgeschichtlichen Bezüge in Haus’ Texten bezeugen auch deutlich, welch wichtige Rolle die Unterstützung des Regisseurs durch führende Persönlichkeiten aus Politik und Kultur beider Staaten unter den Bedingungen des Kalten Krieges spielte. Zyperns Staatspräsident Erzbischof Makarios besuchte demonstrativ eine vom Regisseur eingerichtete Brecht-Ausstellung im Foyer des Stadttheaters, Makarios’ Nachfolger Spyros Kyprianou und dessen Frau förderten Haus’ Gastspiel eines im antiken Oinides entwickelten internationalen „Antigone“-Projekts; in Athen stellten sich der ehemalige Ministerpräsident Panayiotis Kanellopoulos, der Anwalt Panayiotis Skoufis, der Regisseur Karlos Koun, die Schauspielerinnen Elli Lambetti und Aspassia Papathanassiou, die Dramatiker Jakovos Kambannellis und Petros Markaris sowie die Kulturministerin und Schauspielerin Melina Mercouri hinter den DDR-Regisseur, als eine chauvinistische Kampagne verhindern wollte, dass er ein Stück der griechischen Antike inszeniert. Einflussreiche nationalistische Kräfte schlossen noch gegen Ende der 70er Jahre aus, dass ein ausländischer Regisseur, dazu mit Brecht im Kopf, einen solchen Klassiker mit griechischen Darstellern auf eine historische Bühne wie Epidavros bringt. Angesichts der heutigen multikulturellen Präsenz auf antiken Bühnen ist das kaum noch vorstellbar. Die Ewiggestrigen verloren an Boden, seit Melina Mercouri die Haus-Inszenierung der „Hilfeflehenden“ von Euripides auf der modernen Freilichtbühne Lycabettus kurzerhand zum offiziellen Beitrag des ersten Festivals „Athen-Kulturhauptstadt Europas“ (1985) erklärte. Die Aufführung wurde begeistert gefeiert.
Das Zentrum Zypern des Internationalen Theaterinstituts ernannte Haus 1987 zum Ehrenmitglied, anlässlich der Wiedereröffnung der antiken Bühne Oiniades mit Euripides’ „Antigone“ verlieh ihm die griechische Gemeinde Katohi 1988 die Ehrenbürgerwürde, für die Spielzeiten 2003-2005 wurde er mit dem Theaterpreis THOK ausgezeichnet. Diese öffentlichen Würdigungen fanden breite Aufmerksamkeit, weil sie jeweils das erste Mal einem Ausländer zuteilwurden.
Das mit Plakaten und Zeichnungen zu den Inszenierungen illustrierte Buch strahlt den Geist von Empathie, Optimismus, Mut und Energie aus, wie ihn Haus’ Vorbilder Peter Brook, Manfred Wekwerth, Wolfgang Heinz – und allen voran Brecht – geprägt haben. Deutlich wird, wie sich der Regisseur seines Tuns und Lassens unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Demokratisierung beider Staaten bewusst ist.
Dabei geht es Haus nicht allein um die Wiederentdeckung von Prozessen und Haltungen, sondern mit Blick auf die Gegenwart vor allem um die Erschließung von Fortschreibungen, Wechselverhältnissen und Inspirationen. Noch immer gilt, was der Azdak-Darsteller Vladimiros Kafkarides einem Reporter der zyprischen kommunistischen Tageszeitung Haravghi am 17. Oktober 1975 nach der Premiere des „Kaukasischen Kreidekreises“ zur Wiedereröffnung des Staatstheaters nach der türkischen Invasion sagte: „Je mehr Zeit vergeht, desto stärker wächst das Gefälle zwischen der Dringlichkeit der Aufgaben und der Trägheit des politischen Handelns.“
Die verschiedenartigen Beiträge dokumentieren auf nachgerade unnachahmliche Art eine gemeinsame Denk- und Arbeitsweise, weil sie alle eint, „die Dinge und Vorgänge nach ihrer vergänglichen und veränderbaren Seite“ (Brecht) zu befragen. Brechts Wirkung wird nicht nur in den Inszenierungen seiner Stücke – „Der gute Mensch von Sezuan“, „Die Gewehre der Frau Carrar“, „Mutter Courage und ihre Kinder“, Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ –, sondern auch in den Aufführungen von Shakespeares „Maß für Maß“, Borcherts „Draußen vor der Tür“, Carvajals „Lautaro“, Ibsens „Frau vom Meer“ und anderer bestimmend. Damit werden Lösungsvorschläge beschrieben, die bis heute bedenkenswert sind. Doch sie materialisieren sich durch Haus’ besonderes Talent, sie durch die Kunst des Schauspielens zu erschaffen. Sie ist der Mittelpunkt, die ohne Rhetorik, oft in leeren Räumen und nur mit wenig bühnenbildnerischen Elementen Geschichten erzählt, die das „emotionale Gedächtnis“ des Publikums herausfordern. Die Bühne ist „Spielwiese“, der Körper der Darsteller gestische Ressource. Oft werden Tücher oder Requisiten verwendet, die durch die kollektive Benutzung ensemblebildend Narrative schaffen und im Handumdrehen Stimmungen und Situationen zu wechseln vermögen. Malerei, Musik, Licht sind aktive „Schwesterkünste“ ganz im Sinne Brechts.
In einem Satz: Das Buch belegt die Wirkungskraft des Theaters und seine unbegrenzte Fähigkeit zur Kommunikation unter allen Umständen und zu jeder Zeit.
Heinz-Uwe Haus, Daniel Meyer-Dinkgräfe (Hg.): Heinz-Uwe Haus and Theatre Making in Cyprus and Greece. Cambridge Scholars Publishing, Newcastle upon Tyne 2021, 450 Seiten (Englisch).
Schlagwörter: Brecht, Daniel Meyer-Dinkgräfe, Griechenland, Heinz-Uwe Haus, Odile Popescu, Theater, Zypern