Seit Tagen drückt ein heftiger Südwest das Wasser aus dem Schaproder Bodden. Die Surfer stehen recht kläglich im Modder. Dort badet derzeit niemand. Man müsste in die Fahrrinne springen, das ist verboten. Selbst die Hobby-Skipper respektieren sie. In den Sandbänken des Bessin will keiner steckenbleiben. Auch bei normalem Wasserstand hat man vielerorts nur einen knappen Meter Wasser unter dem Kiel. Mein Respekt vor den Leuten der Reederei Hiddensee steigt erheblich.
Aber wir kommen an. Anderthalb Stunden später als gedacht. Das ist pünktlich – und ziemlich unwichtig. Man kann keinen Anschluss verpassen. Am Wochenende fährt der Insel-Bus nicht. Aufpassen muss man nur, dass man das richtige Schiff zur richtigen Zeit erwischt. Großstädter erkennt man daran, dass sie vormittags verdattert im Reedereibüro stehen und absolut nicht verstehen können, dass das nächste Schiff nach Stralsund erst am späten Nachmittag ablegt: „Und was sollen wir jetzt mit dem ganzen Tag anfangen?“
Gute Frage. Bei dem Netzzugang. Man könnte ein Fahrrad ausleihen oder zum Strand wandern. Früher sollen sich die Insulaner vom Fischfang ernährt haben. Heute ernähren sie sich vom Fahrradverleih. Die Anzahl der Ausleihstationen übersteigt die der in den drei Häfen der Insel registrierten Kutter beträchtlich.
Das ist hier wie in Berlin. Als Fußgänger gehört man einer gefährdeten Minderheit an. Selbst auf den schmalen Deichkronen düsen die Kampfradler lang. Und wenn ein stark ergrauter Radfahrer den steilen Plattenweg zum Dornbusch hinauffegt, kann man eh nur zur Seite springen. Der Kerl hat unter Garantie ein E-Bike unter dem Angeber-Hintern. Außerdem hat er Angst. Kommt einer vom festen Belag ab, liefert er einen Live-Beitrag zur „Pannenshow“. Der Inselsand blockiert das Vorderrad sofort.
Man könnte … aber es gibt noch nicht einmal eine ordentliche Kurpromenade. Gott sei Dank sind alle Versuche, das söte Länneken in ein „Sylt des Ostens“ umzuwandeln, kläglich gescheitert. Bislang … Keine Shopping-Meilen. Am Kirchweg von Kloster sind einige Lädchen. Da ist Hübsches darunter, auch einer, der dasselbe „maritime Sortiment“ hat wie alle Touri-Leimruten zwischen der Krumhörn und Heringsdorf. Aber Geldausgeben ist auf der Insel schwierig. Die Erfindung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs ging an den Insulanern vorüber. Und es gibt nur einen einzigen Geldautomaten. In der Sparkasse von Vitte. Am Wochenende gehen dem gelegentlich die Scheine aus. Irgendwann am Montag – wenn genug Wasser da ist – wird wieder aufgefüllt.
Gleich neben der Sparkasse ein grüner Briefkasten. Nix mit PIN-AG. Der ist Apotheken-Ersatz. Da wirft man seine Rezepte ein. Insidertip: Die notwendigen Medikamente vorher auf dem Festland einkaufen! Aber noch gibt es eine Arztpraxis.
Und in Kloster gibt es eine Wahrsagerin, die Pessimisten auch die Karten legt. In der Pension „Zur Post“ kann man ein mehrtägiges ayurvedisches Fastenwandern buchen. Allerdings nur in der Vor- und Nachsaison. Ich vermute, aus umsatzbedingten Gründen. Nach erfolgreichem Fasten sollte man aber schleunigst die Insel verlassen. Die Gastronomie, bodenständig, also gut, macht alles wieder zunichte.
Dass man es hier nicht so sehr mit großstädtisch interpretiertem naturnahem Leben hat, bekam schon der schlesische Aussteiger, Schauspieler und Poet Alexander Ettenburg (1858–1919) zu spüren. Den hatte es 1895 auf die Insel verschlagen. Auf dem Dornbusch betrieb er eine „Bergwaldschänke“. Unweit davon richtete er in der Swantewitschlucht – die heißt heute noch so, der Name stammt von ihm – ein Naturtheater ein, in dem er Selbstverfasstes darbot. Er muss eine sehr kräftige Stimme gehabt haben. Das Meer rauscht hier nicht, es braust meistens. Das Auftauchen eines Konjunkturritters namens Emil Hirsekorn (Berlin) war den Grundstückseignern willkommener Anlass, Ettenburgs Pachtvertrag nicht zu verlängern. Der zog sich nach Vitte zurück und verkaufte Antialkoholisches. Völlig verarmt starb er in einem Stralsunder Krankenhaus. Hirsekorn hingegen baute ein Hotel. Das gibt es immer noch, und es heißt wie früher „Zum Klausner“. Eine Anspielung auf Ettenburg?
Der „Klausner“ war schon immer eine Adresse. Berühmt wurde er durch einen Schriftsteller, der hier einige Monate Geschirr gespült hat. Lutz Seiler. Nicht jeder auf der Insel schätzt den Autor – und seinen Roman „Kruso“ schon gar nicht.
Seiler ist aber in guter Gesellschaft. Obwohl er kräftig für die Insel in ganz Deutschland geworben hatte, mochten die Hiddenseer auch den Ettenburg nicht. Dennoch wollte er auf Hiddensee begraben werden. Ganz zufällig ging seine Urne auf dem Transport zur Insel verloren. Ich nehme an, die liegt immer noch auf dem Grunde des Boddens. So ist er wenigstens seiner Insel nahe.
Gerhart Hauptmann ging auf seinem letzten Wege zur Insel nicht verloren. Dafür sorgte schon die Rote Armee. Die Geschichte ist hinlänglich bekannt. Er liegt auf dem Inselfriedhof gleich links hinter der Kirche. Zu seinen Füßen die Urne von Ehefrau Margarete. De facto zu deren Füßen die von beider Sohn Benvenuto.
Die in alten Büchern als würdig und eindrucksvoll beschriebene Grabstätte sieht heute erbärmlich, fast verwahrlost aus. Es ist, als ob die Hiddenseer dem Hauptmann die Komödie „Schluck und Jau“ immer noch heimzahlen wollten. Die Schlucks und die Gaus sind zwei auf der Insel weit verzweigte, ehrenwerte Familien. Da liegen etliche rund um den Hauptmann herum. Der hatte allerdings ihre Namen zwei arbeitsscheuen niederschlesischen Saufbrüdern verpasst. Das war unanständig.
Ansonsten wimmelt es auf diesem Friedhof von lokalen und sonstigen Berühmtheiten. Gret Palucca liegt hier. Ihr Biograf Ralf Stabel meint, im Vergleich zu Hauptmann sei das Grab bescheiden. Er hat offensichtlich keinen Zollstock dabeigehabt … Paluccas Sommerhaus in Vitte wurde 2009 drei Tage nach dem Beschluss, es unter Denkmalschutz zu stellen, vom Neueigentümer abgerissen. Aber Walter Felsenstein, der thront hier wirklich über allen. Und Platz hat er! In Berlin bespielte er das kleinste der großen Häuser. Auf dem Inselfriedhof ist es umgekehrt.
Näheres zu den Insel-VIPs erfährt man im Heimatmuseum. Kirchweg immer geradeaus … Es ist im ehemaligen Rettungsschuppen untergebracht. Vom sagenhaften Hiddensee-Schatz – der ist quasi mittelalterliche Raubkunst – zeigt es eine gute Replik. Das Original liegt in Stralsund im Tresor. Die Fundgeschichte steht der der Nebraer Himmelsscheibe nicht nach. Ich mag diese kleinen, immer etwas verkramt wirkenden Museen sehr. Die „Großen“ hingegen werden immer langweiliger. Da helfen auch Pseudo-Schlösser nichts. Die diesjährige Sonderausstellung widmet sich einem der poetischsten Kinderfilme der DEFA und seiner literarischen Vorlage, dem 1964 in die Kinos gekommenen „Lütt Matten und die weiße Muschel“ von Hermann Zschoche nach der Erzählung von Benno Pludra. Der auch für Erwachsene immer noch sehenswerte Film dokumentiert zudem das Inselleben der frühen 60er Jahre. Lütt Matten und Mariken wohnen in Neuendorf. Ein (!) Tourist kommt auch drin vor – Herbert Köfer als Raritätensammler. In Neuendorf haben die Fischer in einem ehemaligen Reusenschuppen ein kleines Fischereimuseum eingerichtet.
In einer kurzen, auf dem Dornbusch abgedrehten Sequenz schiebt sich eines der kleinen grauen Boote der Volksmarine im Hintergrund ins Bild. Damit wären wir wieder bei Seilers „Kruso“ … Übrigens, wie Zschoche die beiden Kinder führt – auch nach fast 60 Jahren: Chapeau!
Paluccas Haus ist verschwunden, das „Karusel“ der Stummfilmdiva Asta Nielsen hingegen ist erhalten. Man kann es besichtigen. Über die „Wunderkammer Homunkulus“ hat Renate Hoffmann vor einigen Jahren im Blättchen geschrieben. Die ist immer noch da. Und in Kloster gibt es ein „Eggert Gustavs Museum“. Der Maler Eggert Gustavs ist der Sohn des langjährigen Inselpastors Arnold Gustavs, der Hauptmann beisetzte und die Insel vor Arno Breker bewahrte. Gustavs jr. schuf die Illustrationen zum Hiddensee-Buch des Vaters. Für mich immer noch das Schönste, das bislang über die Insel geschrieben wurde.
Aber lesen können wir auch zu Hause. Wir sind der Natur wegen hier. Wir wollen uns der Macht der Wellen aussetzen. Den Strand haben wir fast für uns. Die feinen Nadelstiche des Windes, der auf West gedreht hat, mögen nicht alle. Wir spüren die Macht der Wellen, bei Kraftproben bleiben sie natürlich Sieger. Immer wieder. Wie immer.
Und immer wieder steigen wir zum Dornbusch hinauf und halten am Inselblick inne. Fritz Reuter behauptet ja, Gott habe das Paradies irgendwo zwischen Krakow am See und Sternberg mit einem Klumpen Lehm hingeklatscht. Er irrte. Wer hier die Augen schweifen lässt, der weiß: Mit dem Paradies kann nur die vorpommersche Boddenwelt gemeint gewesen sein – und Hiddensee ist Evas Diadem.
Schlagwörter: „Lütt Matten und die weiße Muschel“, Dornbusch, Gerhart Hauptmann, Hiddensee, Palucca, Wolfgang Brauer