24. Jahrgang | Nummer 18 | 30. August 2021

Mit Schoigu und ohne Schamanen

von Klaus Joachim Herrmann

Mit der Schlagzeile „Die Schamanen sind vom Geist des einigen Russland beseelt“ schien die Njesawissimaja Gasjeta Mitte August die heiligen Leute in die Niederungen des russischen Wahlkampfes zu ziehen. Heißt doch „Einiges Russland“ die Partei der das Land beherrschenden Obrigkeit. Doch auf dem III. Allrussischen Schamanenkongress im südsibirischen Kysyl, Republik Tuwa, machte der Oberste Schamane Kara-ool Dopchun-ool nur klar, dass „die Völker Russlands eine Gleichstellung des Schamanismus mit anderen Religionen anstreben“. Er kündigte einen Appell zur Anerkennung des traditionellen Glaubens an Präsident Wladimir Putin, den Föderationsrat und die Staatsduma sowie an das Justizministerium und die Föderale Agentur für Nationalitäten an. Kritiker bemängeln freilich, dass der Schamanismus aus vielen Ethnien und „spirituellen Spezialisten“ bestehe und weniger eine einheitliche Religion darstelle.

Wer von den Vertrauten der Geister- und Naturwelt nähere Auskunft über das Abschneiden bei den Wahlen zur Staatsduma vom 17. bis 19. September oder gar eine Beschwörung von Geistern zur günstigen Lenkung bei der Stimmabgabe vom 17. bis 19. September erwartete ging leer aus. Beim neugierigen Blick in die Zukunft mag nicht einmal die gemeinhin durchaus meinungsstarke deutsche Bundeszentrale für politische Bildung so richtig helfen. Sie kommentierte ausweichend weise für die Zeit nach den Wahlen einen „Nebel der Unsicherheit“. Es könne entweder „mit einer Lockerung des aktuellen repressiven Vorgehens des Kremls gerechnet werden oder mit dem genauen Gegenteil“.

Der Kreml gab bereits frühzeitig das Kampfziel aus. „Einiges Russland“ werde als größte Partei im Lande nach dem besten Resultat streben, erklärte Putins Sprecher Dmitri Peskow. Sie werde ja eben „Partei der Macht“ genannt, bemühte er etwas schlichte Logik, weil sie die dominierende sei. Das ist sie mit 334 von 450 Sitzen im aktuellen Unterhaus ohne jeden Zweifel. Als zweitstärkste Fraktion verfügen in der sogenannten systemischen, also der im Parlament vertretenen, Opposition die Kommunisten von Gennadi Sjuganow gerade einmal über 43 Deputierte, die vorgeblichen Liberal-Demokraten des lautstarken Rechtsaußens Wladimir Schirinowski über 40 und Gerechtes Russland unter Sergej Mironow über 23 Abgeordnete.

Anfang August bestätigte sich nach einer Umfrage des Institutes WZIOM in der Sonntagsfrage „Einiges Russland“ mit 27,2 Prozent als stärkste Partei, gefolgt von der KPRF mit 16 Prozent und der LDPR mit 9,6 sowie Gerechtes Russland (seit Februar vereinigt mit Patrioten Russlands und Für Wahrheit) mit 6,7 Prozent. Für Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind, sprechen sich derzeit 14,2 Prozent aus. Das wäre dann die nicht systemische, also die ungeliebte außerparlamentarische Opposition – was sie nach dem Willen der Etablierten auch bleiben soll.

Die größten Chancen, neu in das Unterhaus des Parlaments einzuziehen, räumte die Wirtschaftszeitschrift Kommersant den Parteien „Neue Leute“, der „Partei der Pensionäre für soziale Gerechtigkeit“ und „Jabloko“ ein. Letztere verfügt allerdings auch über das höchste „Antirating“, das sind rund 40 Prozent Ablehnung. Die „Grüne Alternative“ oder die „Partei der direkten Demokratie“ kommen da besser weg, wenn auch sicher nicht hinein. Das Potential der kleinen Parteien, analysiert Meinungsforscher Michail Mamonow, speise sich aus den kleinen Angelegenheiten. Stärker könnten sie nur mit starken regionalen Vertretern, speziellen politischen Angeboten und besonderer Wählernähe werden. Im Aufschwung befinden sich die Neuen Leute um Alexej Netschajew, Präsident eines Kosmetikunternehmens, die wie das energischer wirkende Jabloko als Liberale und Reformer firmieren. In allen vier Regionen, in denen die Türkis-Schwarzen im September 2020 an Wahlen teilnahmen, überwanden sie die Prozenthürden.

Das „kluge Votum“, bei dem für den jeweils aussichtsreichsten oppositionellen Kandidaten gestimmt werden soll, erscheint mit der Zerstörung der Strukturen des Lagers von Alexej Nawalny geschwächt. Ex-Oligarch Michail Chodorkowski klagt: „Es wird so sein, dass wir im September nicht für die besten, sondern für die am wenigsten schlechten Kandidaten stimmen müssen.“ Er hat eine Website eingerichtet, um die Wähler über seiner Meinung nach ungeeignete Kandidaten zu informieren. In seiner „Shit-Parade“ finden jene zehn Politiker Platz, die am stärksten für Präsident Putin eintreten. Denn Chodorkowski möchte ausdrücklich nicht, dass sich unter den unterstützten oppositionellen Kandidaten „aktive Befürworter einer fünften Amtszeit Putins befinden“.

Die Behörden wiederum verfolgten laut der Njesawissimaja Gasjeta die Absicht, sowohl Kandidaten für die kluge Abstimmung als auch deren mögliche Wähler zu bekämpfen. Wenn gehackte Datenbanken über Anhänger des oppositionellen Votums in sozialen Medien veröffentlicht werden, könnte das noch als zufällig durchgehen. „Aber wenn die gestohlenen Daten durch Angaben zu ihren Arbeitsplätzen und Arbeitgebern ergänzt werden, und vor allem, wenn sie in den zentralen Medien als eine Art Untersuchung veröffentlicht werden, wird es zu einer ernsten Angelegenheit“, warnte das Blatt.

Das „Zentrum zur Erforschung der politischen Kultur Russlands“ (ZIPKR), quasi die analytische Abteilung der Kommunistischen Partei (KPRF), sieht als größte Widersacher bei den Wahlen „Einiges Russland“ und die KPRF. Die Regierungspartei werde betrachtet als „die Partei des größten und kleinerer Chefs“, was eher kein Vorteil ist. Ihr Wählerpotential wird mit 47 Prozent, das der Kommunisten mit 51 Prozent angegeben. Allerdings habe die Partei der Macht ein größeres Mobilisierungspotential.

Dem versuchen die Kommunisten mit einem durchaus populären Coup Mitte August zu begegnen. Sie reichten einen Gesetzentwurf zur Wiedereinführung des früheren Rentenalters von 60 Jahren für Männer und 55 Jahren für Frauen ein. Die Wirtschaft benötige kein zusätzliches Personal, hieß es zur Begründung. Bei Bürgern im Vorruhestandsalter, die gezwungen seien zu arbeiten, würde sich nur der Gesundheitszustand verschlechtern. Das wiederum führe zu einem erheblichen Anstieg der Belastungen für die Sozialversicherungskasse: „Mit der Anhebung des Rentenalters werden unvergleichlich mehr Bürger einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeit stellen.“ Darüber hinaus werde die Anhebung des Rentenalters zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führen, auch unter jungen Menschen, so die Kommunisten. Die Änderung solle bereits am 1. Januar 2022 in Kraft treten. Statt 2018 das Renteneintrittsalter zu erhöhen, hätten mehr Steuern in die Versicherungssysteme gepumpt werden sollen.

Mit der Annahme des Gesetzes rechnet niemand ernstlich, zumal schon frühere derartige Versuch fehlschlugen. Die Botschaft kam aber an. So schlug Präsident Putin umgehend vor, allen Rentnern einmalig zusätzlich 10.000 Rubel zu zahlen. Militärs sollen 15.000 Rubel erhalten. Dies verkündete der Staatschef noch rechtzeitig am 22. August bei einem Treffen mit Aktivisten der Partei „Einiges Russland“. Angekündigt sind weitere Unterstützung für Familien mit Kindern, die Anpassung sozialer Hilfen, Verbesserungen im Gesundheitswesen. „Alle Versprechen, die Einiges Russland macht, müssen realisierbar und gut kalkuliert sein, bei unserem Volk größte Wirkung erzielen“, gab Putin dem Aktiv mit auf den Weg. Es würde im leid tun, wenn es eines seiner Mitglieder nicht in die Staatsduma schaffe. Aber auch dann „werden sie nicht ohne ein Stück Brot dastehen“.

Da kann man sicher sein. Zudem hat der Kremlchef auch personell vorgesorgt. So stellte er seine besten Kräfte an die Spitze. Die Anführer der föderalen Liste von Einiges Russland sind mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Außenminister Sergej Lawrow zwei der mit Abstand populärsten Politiker. Hinzu kommen der Leiter des Krankenhauses Nr. 40 in Kommunarka, Denis Protsenko, die Ko-Vorsitzende der Allrussischen Volksfront (ONF) Jelena Schmelewa und die Ombudsfrau für Kinder, Anna Kusnezowa. Bei früheren Wahlen wurde die Regierungspartei allerdings vom Premierminister und davor zweimal hintereinander vom amtierenden Präsidenten geführt. Für Putin und Ministerpräsident Michail Mischustin, so kommentierte der politische Berater Jewgeni Minchenko, wäre dies sowohl für den Präsidenten als auch für den Premierminister von Nachteil gewesen. Es wäre falsch, wenn Putin von Einiges Russland „privatisiert“ und ein besseres Ergebnis erwarten lassen würde. Mischustin sei trotz guter Zustimmungswerte „eigentlich keine politische Figur“. Wenn es gut geht, wäre das kein Problem für niemand; und wenn es irgendwie schief gehen sollte, halten Präsident und Premier sicheren Abstand.