Weiß außer mir noch jemand, was ein analoges Modem ist? Dieses archaische Gerät lässt sich am besten dadurch charakterisieren, dass es stets mindestens zehn Minuten brauchte, um etwa die pdf-Fassung des Blättchens an mich zu übermitteln. An Extras wie etwa bewegte Bilder war unter den Umständen natürlich gar nicht zu denken.
Vor etwa zwei Wochen hielt nun die Gegenwart in Form eines zeitgemäßen Internet-Anschlusses auch in meine Wohnung Einzug; schätzungsweise bietet er etwa die tausendfache Geschwindigkeit. Ich war also unversehens in den Besitz eines Zauberspiegels gelangt – doch etwas Schönes und Interessantes suchte ich damit tagelang vergebens. Da fiel mir ein rundum gelungener musikalischer Auftritt ein, über den ich auf diesen Seiten einmal kurz berichtete. Sollte es dazu nicht auch einen Internet-Auftritt geben? Unter der Adresse „alicefrancis.de“ fand ich leicht das Gesuchte.
Die Startseite enthält außer einem sehr schönen Gruppenporträt nur eine Stummfilmsequenz, die mich immer mehr faszinierte, während ich das reichhaltige sonstige Angebot durchmusterte. Sollte es dazu nicht auch eine tönende Version geben? In der Tat kommt man mit einem Klick zu einer bekannten Plattform, auf der eine solche zu finden ist. Und dann ging’s los.
Alice Francis begrüßt uns im „St. James Ballroom“. Mit Gesang und Tanz schafft sie die Szenerie: ein schwarz-weiß abgefilmtes Publikum, in dem die gesungene Aufforderung „kiss me“ augenblicklich in verschiedenen erheiternden Varianten befolgt wird. Die Band ist aus einer Zweierbesetzung zu voller Stärke angewachsen und begleitet die Szenerie mit lockerem Swing, in den sich merkwürdigerweise Synthesizertöne mischen, während jemand auf einem Grammophon scratcht. Hintergrundsängerinnen schwenken ihre Fächer. Das Publikum treibt es jetzt bunt oder ist jedenfalls in Farbe zu sehen. Es kommt in Bewegung bis hin zu akrobatischen Tanzeinlagen. Und die Gastgeberin ist in einer kurzen Schlussszene offensichtlich zufrieden mit ihrem Werk.
Das alles ist filmisch so geschickt arrangiert, dass es wie ein Liveauftritt wirkt; Kunststücke wie etwa ein wiederholter Kostümwechsel eigens für bestimmte Songteile wären aber auf der Bühne wohl schwierig zu realisieren. Und die eingängige Melodie basiert nach genauerer Recherche auf einer komplexen Akkordfolge, die zwischen Dur- und Molltonarten changiert.
Wer den Auftritt beim Festival „Bochum Total“ nacherleben will, den ich im Blättchen 18/2019 beschrieben habe, findet hierzu einen kurzen Ausschnitt, der durch den Blick aus der Bühnenperspektive zusätzlichen Reiz gewinnt. Die Aufforderung „Shoot Him Down!“, die mich damals leicht irritierte, wird von einer hübschen, aber äußerst erbosten Zeichentrickfilm-Katze mit der für das Genre typischen Drastik umgesetzt. Um den Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht zu sprengen, sei nur noch ein Clip erwähnt, der – nach den historischen Straßenkreuzern aus der Zeit vor der Wirtschaftsblockade zu schließen – in Kuba entstand. Hier zeigt Alice Francis, dass sie auch in der Welt der lateinamerikanischen Musik zu Hause ist.
Besonders beeindruckt aber hat mich ein Video, das nur von klassisch anmutender Klaviermusik begleitet ist. Durch gewagte Kamerafahrten in einem Wald wird eine majestätische Frauengestalt sichtbar, deren barockes Kostüm bei näherer Betrachtung aus Zutaten wie unzähligen leeren Plastikflaschen besteht; auch ein schwer definierbares Stück einer sanitären Einrichtung gehört dazu. Ein weiterer Clip zeigt, wie die Künstlerin in ein anderes Kostüm eingekleidet wird. Dabei berichtet sie über die Hintergründe des Projekts: wie sie auf ihren Reisen immer wieder auf Berge von Müll stieß und beschloss, dieses Problem mit künstlerischen Mitteln aufzugreifen, die nicht auf abschreckende Hässlichkeit, sondern auf Schönheit setzen. Mit diesen Mitteln, zu denen auch die Körperbemalung zählt, verwandelt sie sich in Ikonen, die Frauengestalten wie Josephine Baker, Eartha Kitt und Marie Antoinette nachempfunden sind und von einer hervorragenden Fotografin abgelichtet werden. Die Ergebnisse wurden in Form eines Kunstkalenders veröffentlicht. – Da finden wir also die noch recht junge Kunstform der Gestaltung von Internetseiten als Hülle für einen bedeutenden Beitrag zur bildenden Kunst; und da die Entstehung des Ganzen dokumentiert wird, handelt es sich auch um überzeugende Aktionskunst, die tiefen Ernst mit hintergründiger Komik vereint. – Wie Alice Francis ihre Poesie in Musik umsetzt und optisch in Szene setzt, habe ich bereits zu schildern versucht. Ich fühle mich daher völlig berechtigt, hier von einem „Gesamtkunstwerk“ zu sprechen.
Mich erinnert das an eine gleichnamige literarische Gestalt. Hier begegnet uns im wirklichen Leben eine erwachsene Alice, die ihre Abenteuer selbst bestimmt und ihre eigenen Wunderländer schaffen kann, die nicht von argwöhnischen Tieren umgeben ist, sondern von hilfreichen und kompetenten Menschen – und die die Gabe besitzt, mit solcher Hilfe Müll in Objekte von überirdischer Schönheit zu verwandeln.
Schlagwörter: Alice Francis, Bernhard Mankwald, Musik, Poesie, Videokunst