Eigentlich müsste man von den starken Weibern von Salzburg schreiben, weil das so schön nach handfester Frauenpower und -list auf der Bühne (und nach Shakespeare) klingt. Aber da ist heutzutage Vorsicht geboten. In Salzburg sorgte schon ein züchtiger und angemessen kontextualisierter Kritikerblick (von Manuel Brug in der Welt) auf die Attribute der Weiblichkeit der Buhlschaft im „Jedermann“ für einen Sturm in der Twitter-Teetasse gegen den eigentlich lobenden Kritiker. Der wehrte sich zu Recht in aller Ruhe im Deutschlandradio dagegen und bekam dafür von einer Inquisitorin (vielleicht auch mit großem I ganz hinten) des politisch Korrekten (Susanne Burkhardt) dieses Senders eine Philippika hinterhergeschickt, bei der man sich fragt, wohin diese angemaßte Sprachzensur noch führen soll.
Dabei ist Salzburg in dieser Beziehung schon lange besser als sein Ruf. Dass die scheidende Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler bei ihrem Amtsantritt 1995 auf dem Büroschild „Präsidentin“ bestand, hatte durchaus seinen Sinn. Auch wenn die künstlerischen Intendanten an ihrer Seite seither immer Männer waren (Gerard Mortier bis 2001, Peter Ruzicka ab 2002, Jürgen Flimm ab 2007, Alexander Pereira ab 2012, Sven-Eric Bechtolf ab 2015 und seit 2017 Markus Hinterhäuser) – sie blieb. Sie sorgte beherzt für Kontinuität und wurde allmählich selbst zum Gesicht der Festspiele. In Cecilia Bartoli hat sie zudem seit 2012 als Intendantin der Pfingstfestspiele eine charismatische Künstlerintendantin an ihrer Seite.
Nun ist Salzburg zur Festspielzeit natürlich auch heute eine Bühne für ein Publikum, das kein Problem damit hat, klassische Rollenbilder zur Schau zu tragen. Schicke Roben, Edeldirndl und zum „Jedermann“ (Festspielklassiker und Cashcow in einem) traditionell auch Edellederhosen bei den Herren. Sehen und gesehen werden, warum auch nicht.
Eigentlich gilt’s aber auch hier der Kunst. Beim Schauspiel garantiert schon die Bühne auf der Perner-Insel in Hallein vor den Toren der Stadt seit knapp 30 Jahren die Teilhabe der Festspiele am zeitgenössisch ambitionierten Theater. In diesem Jahr mit einer besonderen Fassung von Shakespeares „Richard III.“ Für diese Koproduktion mit dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg hat Regisseurin Karin Henkel (zusammen mit Sybille Meier und Andreas Schwinger) unter Nutzung von Texten aus Luk Percevals legendärer ganztägiger Königsdramen-Zusammenfassung „Schlachten“ eine Fassung destilliert, die sie „Richard the Kid & the King“ nennt. Was ziemlich klar die Richtung beschreibt. Also eine, die mit dem ungeliebten Kind den bewusst aus jeder Fassung von Menschlichkeit geratenen König erklärt. Was – noch dazu mit einem Sprachmix aus Deutsch (reichlich mit fuck-Zusätzen durchsetzt) und Englisch – zunächst mal nach Küchenpsychologie fürs modische Brülltheater klingt, erweist sich als Theaterereignis, das trotz vier Stunden und FFP2-Maske in den Bann zieht.
Der Hauptgrund dafür hat einen Namen und der ist Lina Beckmann. Dass und wie sie den Richard spielt, ist jenseits eines um sich greifenden Gendereifers, wonach so viel wie möglich gegen das natürliche Geschlecht besetzt wird, große Schauspielkunst. Nehmen wir an, sie hätte (wie die deutsche Kanzlerkandidatin der Grünen) einen männlichen Mitbewerber um diese Rolle gehabt, sie hätte nicht die Geschlechterkarte ziehen müssen. Ihr Können, die elementare Wucht, das Einfühlen in die Abgründe, die Fähigkeit neben sich zu treten und das Publikum bei seinen Sympathien für die falsche Seite zu ertappen, die Rolle gleichzeitig zu sein und sie vorzuführen, reichen völlig.
Die Welt ist hier eine Scheibe, die Karin Brack schräg im Raum angekippt hat. Dieser Richard würde das mit der Welt als Scheibe rotzfrech als die alternative Wahrheit verkaufen und sich im nächsten Moment darüber amüsieren, dass die Leute ihm das abnehmen. Ob man will oder nicht, man muss (und soll wohl auch) des Öfteren an den vorigen Präsidenten der USA denken. Der spielerische Wechsel zwischen dem eigenen und dem gespielten Geschlecht der Darsteller (Kate Strong, Bettina Stucky und vor allem Kristof Van Boven bringen es da für ihre insgesamt neun Rollen zu einer ziemlichen Virtuosität) wird hier zum selbstverständlichen Teil des Spiels und nicht zu einer aufgesetzten Ablenkung davon.
Beim „Jedermann“, dem Erbauungsstück von Hugo von Hofmannsthal, gehört das Verhältnis der Geschlechter quasi zum Kern der Geschichte vom reichen Mann, den der Tod ohne Vorwarnung trifft, und der keinen Begleiter auf seinem letzten Weg findet. Auch seine Geliebte nicht. Um diese kleinste Hauptrolle überhaupt gibt es in Salzburg immer einen Riesenwirbel (und wenn es einer im Wasserglas ist). Um das Kleid und natürlich darum, wer sich in die Ahnengalerie der Interpretinnen, die einem schlichtweg den Atem verschlägt, einreihen darf. Das gilt genauso für den Jedermann selbst. Der muss freilich eine ganze Menge wie in Holz geschnitzten Text beiseiteschaffen. Auch hier müssen die Vorgänger Respekt einflößen. Das Stammpublikum wird den diesjährigen Jedermann mit Tobias Moretti, Peter Simonischek oder Gert Voss etwa vergleichen. Die älteren Jahrgänge auch noch mit Klaus Maria Brandauer, Maximilian Shell oder Curd Jürgens. Jedes Programmheft verlängert dieses „Who is Who“ des deutschsprachigen Theaters. Selbst wenn man das Stück an sich nicht sonderlich mag, bleibt es quasi als Punchingball für jeden Mimen, der sich darauf einlässt, eine Herausforderung. In diesem Jahr stieg der Berliner Schaubühnenstar Lars Eidinger in den Ring. Sogar ganz wortwörtlich. Eine Runde Wort-Boxkampf mit dem drahtigen Mirco Kreibich als Schuldknecht – der dann als Mammon einen zweiten Auftritt hat.
Eine schlichte Bühne vor der echten (oder bei schlechtem Wetter fürs Große Festspielhaus gemalten) Domkulisse, eine große Tafel, anfangs ein paar Vorhänge davor und rechts und links Gerüste für den Auftritt von Frau Tödin – Edith Clever – und Frau Göttin – Mavie Hörbiger. Fast schon klar, dass die dann auch noch die Teufelin ist. So viel von den Brandungen des Zeitgeistes (oder der Zeitgeistin?) bekam der Hofmannsthalsche Stückefelsen in diesem Jahr ab. Und das sogar mit Gewinn. Verena Altenberger („Magda macht das schon“) ist eine ausgesprochen selbstbewusste Buhlschaft auf Augenhöhe mit Jedermann. Mit einem Charisma, als wäre sie Jedermanns Bond-Girl. Wenn sie beim ersten Auftritt auf seinen Schultern sitzt, er von ihrem roten Gewand verdeckt wird und sie die Lippen zu seinen Worten bewegt, dann ist das der Auftakt für eine geradezu gleichberechtigte Beziehung zum reichen Mann, die von ihr eingegangen und auch beendet wird. Daraus wird ein so körperlicher Pas de Deux der Liebe, wie man ihn noch nicht gesehen hat.
Am Anfang schlägt die Rolle auf den körperbetonten Eidinger gelegentlich zurück. Doch als er spürt, dass sein Ende naht, läuft er zu Hochform auf, ist ganz bei sich und wirft seinen Ego-Turbo an. Und doch sind es die Szenen mit den starken Frauen, die sich einprägen: Mit Angela Winkler als seiner Mutter. Oder mit Edith Clever an einem Tisch. Und am Ende in ihrem Schoß wie eine Pieta. Das sind die eindrucksvollen, eher ruhigen Momente in einer ansonsten leichtfüßig surrealen, barocken Show mit wohldosierter Bühnenmusik von Wolfgang Mitterer, bei der weder die Opulenz von historischen Kostümversatzstücken noch der wilde Slapstick fehlen. Michael Sturminger hatte schon 2017/18 die Inszenierung übernommen und sie 2019/20 nochmal mit Tobias Moretti und für Caroline Peters nachgebessert. Jetzt gibt es aber eine nagelneue Inszenierung. Eine, die natürlich beim Stück bleibt, aber alles staatstragend Moralisierende mit gängigen Theatermitteln subversiv unterläuft. Das Schöne daran ist, dass dabei die großen alten Damen ihre Extraklasse leuchten lassen und die jüngeren ihr Temperament effektvoll versprühen können. Eidinger wird vor allem in ihrem Lichte wirklich zum Zentrum.
Schlagwörter: Jedermann, Joachim Lange, Lars Eidinger, Richard III., Salzburger Festspiele, Verena Altenberger