24. Jahrgang | Nummer 17 | 16. August 2021

Die EU und die Subordination

von Erhard Crome

Jarosław Kaczyński hat jene Karte vom Tisch genommen, die im Streit mit der EU um die Justizreform in Polen derzeit die meiste Aufregung gebracht hatte. Zu jener Kammer, vor der sich gegebenenfalls Richter verantworten sollten und die nach EU-Auffassung gegen das Prinzip der Gewaltenteilung verstößt, erklärte der „Präses“: „Wir werden die Disziplinarkammer in ihrer jetzigen Form auflösen und damit verschwindet auch dieses Streitthema.“ Zuvor hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) verfügt, diese Kammer dürfe nicht über die Immunität von Richtern entscheiden und die Gerichte müssten mit unabhängigen Richtern besetzt werden.

Quasi zeitgleich hatte das Verfassungsgericht Polens geurteilt, solche Beschlüsse des EuGH müssten nicht beachtet werden, die Bestimmung des EU-Vertrages, auf deren Grundlage der in Luxemburg ansässige Gerichtshof die Mitgliedsstaaten zu einstweiligen Maßnahmen gegen die Justiz verpflichten will, sei verfassungswidrig. Nur auf die EU übertragene Kompetenzen seien dem EuGH unterworfen, dazu gehöre das Justizsystem nicht. Der Europäische Gerichtshof selbst und Kommission sehen das anders und bestehen auf einem Vorrang des EU-Rechts und des EuGH.

Die polnische Begründung stimmt im Kern mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 überein, auch wenn deutschen Medien das nicht passt. Im Zusammenhang mit dem Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank hatten das Karlsruher Gericht im Sinne seiner „Ultra-vires-Kontrolle“ (zu Deutsch: eines Aktes „jenseits der Befugnisse“) betont: Der „Rechtsprechungsauftrag des Gerichtshofs der Europäischen Union endet dort, wo eine Auslegung der Verträge nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich ist. Überschreitet der Gerichtshof diese Grenze, ist sein Handeln vom Mandat“ des EU-Vertrages „in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz nicht mehr gedeckt, so dass seiner Entscheidung jedenfalls für Deutschland das […] erforderliche Mindestmaß an demokratischer Legitimation fehlt.“ Und weiter: „Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten“ besitze „ein für das Demokratieprinzip und den Grundsatz der Volkssouveränität erhebliches Gewicht. Ihre Missachtung ist geeignet, die kompetenziellen Grundlagen der Europäischen Union zu verschieben und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu unterlaufen.“

Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993 zum Maastricht-Vertrag, der die EU als Union begründete, wurden die damaligen Klagen gegen den Vertrag abgewiesen. Die Verlagerung bestimmter Kompetenzen auf die EU verstoße nicht gegen das Demokratieprinzip, wie es im Grundgesetz verankert ist. Gleichwohl wurden konkrete Bedingungen formuliert. Zunächst: „Der Unionsvertrag begründet einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der – staatlich organisierten – Völker Europas, keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat.“ Daraus folge, bei „der Auslegung von Befugnisnormen durch Einrichtungen und Organe der Gemeinschaften“ sei zu beachten, „dass der Unions-Vertrag grundsätzlich zwischen der Wahrnehmung einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und der Vertragsänderung unterscheidet“. Deshalb dürfe eine Vertragsauslegung „in ihrem Ergebnis nicht einer Vertragserweiterung gleichkommen“. Das heißt, die Unionsorgane dürfen nicht von sich aus ihre Befugnisse ausweiten. Eine solche „Auslegung von Befugnisnormen würde für Deutschland keine Bindungswirkung entfalten“. Der Vertrag räume den EU-Organen keine Kompetenz-Kompetenz ein, sondern garantiere auch weiterhin die Ermächtigungsbefugnis von Seiten der nationalen Parlamente.

Daraus folgt, dass „das Bundesverfassungsgericht prüft, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen“. Damit war die „Ultra-vires-Kontrolle“, auf der das Bundesverfassungsgericht 2020 bestand, von vornherein Bestandteil der Zustimmung zum Maastricht-Vertrag und folglich auch aller nachfolgenden Vertragskonstrukte zur EU-Integration. Und schließlich, nochmals das Urteil von 1993: „das Bundesverfassungsgericht [übt] seine Rechtsprechung über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem ,Kooperationsverhältnis‘ zum Europäischen Gerichtshof aus“. Im Klartext: Es gibt keine grundsätzliche Subordination des deutschen Bundesverfassungsgerichts unter den EuGH. Wenn dies für Deutschland gilt, gilt das für alle EU-Staaten.

Im Hintergrund steht ein politischer Konflikt, nicht zwischen Polen und der EU-Kommission sowie dem EuGH, sondern zwischen den Kompetenzanmaßungen der Union und der Nationalstaatlichkeit. Ivan Krastev und Stephen Holmes schrieben in ihrem Buch „Das Licht, das verlosch“, dass viele konservative Polen sich im Kalten Krieg auf die westlichen Gesellschaften orientierten, „weil sie anders als kommunistische Systeme Traditionen pflegten und an Gott glaubten“. Heute dagegen sei „westliche ,Normalität‘ Säkularismus, Multikulturalismus und Homo-Ehe“. Deshalb fühlten sich etliche Mittel- und Osteuropäer „betrogen“.

Jan Zielonka, in Polen geborener Professor für Europäische Politik und „Ralf Dahrendorf Fellow“ an der Universität Oxford, beschrieb das strukturelle Problem bereits 2018 so: In der EU werde Politik als „Kunst technokratischer Verwaltung“ durch Institutionen verstanden. Es wurde immer mehr Macht an Institutionen delegiert, die nicht Mehrheitsentscheidungen unterworfen sind. Statt auf die Bürger zu hören, wolle man sie erziehen. Deshalb gäbe es in vielen Ländern eine „Konterrevolution“, rechte und linke „Populisten“ wollten die seit 1989 herrschenden (Neo-)Liberalen ablösen. Die Mainstream-Parteien hätten es nie ernsthaft in Erwägung gezogen, die Macht der Zentralbanken, der Verfassungsgerichte und der EU-Institutionen zu beschneiden. Die „herrschende politische und intellektuelle Elite ist allzu eifrig darauf bedacht, jegliche Kritik als ,populistisch‘ abzutun“. „Unbequeme Fakten werden entweder aus dem politischen Diskurs entfernt oder von ,wissenschaftlichen‘ Beratern, die von der Regierung bezahlt werden, in Misskredit gebracht.“

Dort, wo „Populisten“ Wahlen gewinnen konnten, so weiter Zielonka, in Ungarn (Orbán), Griechenland (Tsipras) und Polen (Kaczyński), „setzten die besiegten Liberalen auf die Macht ernannter Verfassungsrichter oder Zentralbanker, Entscheidungen oder Gesetze der neuen Regierung zu boykottieren oder aufzuheben. Die konterrevolutionären Politiker beeilten sich dagegen, diese nicht mehrheitsgebundenen Institutionen zu neutralisieren und mit ihren eigenen politischen Verbündeten zu besetzen.“ Die Bürgerplattform von Donald Tusk, die bis 2015 Polen regiert hatte, setzte im letzten Moment, bevor Kaczynskis PiS die neue Regierung übernehmen konnte, noch mehrere Oberste Richter ein, um genau dies zu realisieren. Die Justizreform der PiS-Regierung zielte darauf, dies politisch zu entschärfen. Und die EU agiert im Sinne des technokratischen Kompetenzanspruchs.