24. Jahrgang | Nummer 18 | 30. August 2021

Anmerkungen zum Afghanistan-Krieg

von Erhard Crome

Nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul ist allenthalben von „Niederlage“ und „Desaster“ die Rede. Der frühere Diplomat Michael von der Schulenburg, jahrzehntelang für UNO und OSZE leitend tätig, befand bereits vor über einem Jahr: „Der Nato-Einsatz in Afghanistan war ein Fiasko. Die Art des Rückzugs ist es auch.“ Es sei „eine Ironie der Geschichte, dass Ereignisse in diesem verarmten, abgelegenen und weithin unbekannten (aber wunderschönen) Land zum zweiten Mal in unserer Zeit eine weltpolitische Zeitenwende einzuläuten scheinen“. Die mächtige Sowjetarmee musste 1989 nach zehn Jahren Krieg abziehen und die Sowjetunion akzeptieren, dass sie gescheitert war, mit militärischer Gewalt ein ihr gemäßes politisches System durchzusetzen.

Erstaunlich ist, dass die Katastrophe, in die der sowjetische Afghanistan-Krieg geführt hatte, ignorant vom Westen und der NATO wiederholt wurde. George W. Bush führte den Krieg unter Verweis auf die Anschläge von New York. Schulenburg betonte, die Frage, „warum Afghanen eine Kollektivschuld für die Terrorangriffe vom 11. September 2001 bezahlen mussten“, wurde in Washington und keiner anderen westlichen Hauptstadt je gestellt oder gar beantwortet. Kein einziger Afghane war an dem Anschlag beteiligt, geplant wurde er in Hamburg. „Und doch haben Afghanen mit mindestens 160.000 Kriegstoten, unzähligen Kriegsversehrten, 2,5 Millionen Binnenvertriebenen und 2,7 Millionen Flüchtlingen einen sehr hohen Preis dafür bezahlt.“ Die Kosten des Krieges betrugen allein für die USA über 2400 Milliarden US-Dollar, die Gesamtkosten für alle 38 Verbündeten werden auf vier Billionen US-Dollar geschätzt.

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler zeichnete die Konturen der historischen Zäsur noch schärfer (Neue Zürcher Zeitung, 04. Mai 2021). Analogien zu Vietnam liegen auf der Hand: „auch dort jahrzehntelanges Engagement, gewaltige Kosten, erhebliche Verluste, sich verschlechternde Erfolgsaussichten, kontinuierlich schrumpfende Durchhaltebereitschaft bei den Interventen, ein eilig verhandelter Vertrag der beiden Kriegsparteien“. Der „nach Verstreichen einer Anstandsfrist von den Nordvietnamesen mit der Eroberung Südvietnams aufgekündigt wurde“. Das Drehbuch für die Zukunft Afghanistans dürfte ähnlich aussehen – nur dass es keinen vergleichbaren Vertrag gab.

Die weltpolitische Konstellation ist jedoch unterschiedlich: Im Kalten Krieg kämpften West wie Ost um Einflussgebiete, indem sie wichtige Länder der Dritten Welt auf ihre Seite zu ziehen versuchten. Die Präsenz der Sowjetarmee in Afghanistan in den 1980er Jahren wurde im Westen genau so verstanden, weshalb er die Feinde der Sowjetunion mit Geld und Waffen unterstützte, um dieser „ein ‘Vietnam’ zu bereiten“. Beim Einsatz der NATO-Truppen am Hindukusch ging es jedoch nicht um Geopolitik, weshalb Russland und China die Taliban keineswegs unterstützten. Münkler erinnert an die „Ursprungsbegründung für das militärische Eingreifen des Westens in Afghanistan“, nämlich die dortige Präsenz von al-Kaida, die für den Angriff vom 11. September verantwortlich gemacht wurde. Militärisch waren al-Kaida und die Taliban rasch geschlagen und die westlichen Truppen hätten bereits „2003 wieder abziehen können. Im Rückblick wäre das wohl das Richtige gewesen.“

Das geschah nicht. Dem Westen ging es fortan um eine neue Weltordnung. Nirgends explizit festgeschrieben, gehörten dazu eine Verregelung der internationalen Beziehungen in westlichem Sinne und die weltweite Geltung westlicher Normen. Hier kam Afghanistan, so weiter Münkler, „eine Schlüsselposition zu“, es „wurde zum Experimentierfeld für die Implementierung dieser Weltordnung: Durchsetzung vor allem von Frauenrechten, demokratische Partizipation, wirtschaftliche Entwicklung“. Der Westen steckte dann mindestens ein Jahrzehnt in der Zwickmühle. Es handelte sich „um das Vorzeigeprojekt der neuen Weltordnung“, deshalb „wollte man den Militäreinsatz nicht abbrechen. Afghanistan war der Prüfstein für die Durchsetzbarkeit der neuen Weltordnung.“

So folgt: „Der Truppenabzug ist das Eingeständnis, dass sich der Westen mit dem Projekt einer liberalen Weltordnung überhoben hat. Nicht nur in Russland und China, immerhin mächtige Gegenspieler, lassen sich Menschenrechte und bürgerschaftliche Politikpartizipation nicht zur Geltung bringen. Sie sind auch in rückständigen Gebieten nicht durchzusetzen, nicht einmal dann, wenn Teile der Bevölkerung das wünschen.“ So folgt: „Die liberalen Werte des Westens werden auf absehbare Zeit nur im Westen und in den ihm zugehörigen Räumen gelten. Die Idee einer globalen Ordnung mit gemeinsamen Werten ist definitiv aufgegeben worden – auch wenn sie in der Rhetorik […] nach wie vor bespielt werden wird.“ Das Fiasko des Westens bedeutete, auch die Gefallenen starben für eine Illusion, letztlich vergeblich. Die meisten Verluste hatten die USA (2452 Soldaten), dann Großbritannien (455 Soldaten). Über 150 Kanadier und mehr als 80 Franzosen verloren ihr Leben sowie 59 Deutsche.

Neben die strategischen Fehlentscheidungen traten handwerkliche. Aus der Kriegsgeschichte ist bekannt, dass „Kampfkraft“ einer Truppe nicht allein daraus entsteht, dass man möglichst viele Waffen liefert und dann Personen an diesen ausbildet, sondern indem man dieses Personal zu Einheiten formiert und es Vertrauen zu den Offizieren und den politischen Entscheidern hat. Mannschaften unter der Voraussetzung von Korruption, Misswirtschaft und Misstrauen können nicht wirksam kämpfen. Das wäre übrigens eine wichtige Lehre für analoge Einsätze, in denen die Bundeswehr fragwürdige Militäreinheiten für fragwürdige Regime und Zwecke ausbilden soll.

Spätestens seit den Kriegen des 18. Jahrhunderts weiß man zudem: Wenn Rückzug befohlen wird, aber wichtige Güter oder zivile Personen mitgenommen werden sollen, evakuiert man zuerst das zivile Personal und zuletzt den kampfstärksten Teil der kämpfenden Truppe. Insofern ist das bedauernde Getue der westlichen Regierungen, dass ihre Soldaten fein raus sind und die meisten gefährdeten „Ortskräfte“ noch dort, nicht nur Ausdruck einer „Fehleinschätzung“, wofür im Nachgang die Geheimdienste verantwortlich gemacht wurden, sondern von fehlendem militärischen Sachverstand. Oder einer letztlich kolonialen Attitüde, weil es um die Menschen in Afghanistan letztlich nie wirklich ging, sondern nur als Figuren in einem globalpolitischen Spiel.

Von großer Tragweite ist die „Migrantenrevolution“. So hat Ivan Krastev bereits vor einigen Jahren ein Phänomen genannt, das nach 1990 mit der Globalisierung entstand. Für immer mehr Menschen bedeutet Veränderung nicht mehr, die Regierung im „eigenen Land“ zu wechseln, sondern individuell oder mit der Familie das Land. Das hatte er daraus abgeleitet, dass viele junge, gut ausgebildete, netzaffine Menschen aus Polen, Ungarn oder Bulgarien nicht warten wollten, bis es in ihren Ländern so ist wie im Westen, sondern sie gleich als Personen in den Westen gingen. So kamen Millionen Osteuropäer nach Deutschland, Großbritannien, Österreich und andere Länder. Das betraf später auch junge, gebildete Menschen aus dem Nahen Osten. Im Falle Syriens erklärte man das meist mit der Brutalität der Kriegsführung der syrischen Regierung.

Mit dem Scheitern des westlichen Afghanistankrieges 2021 und einer durchgreifenden Modernisierung der dortigen Gesellschaft hat der modernisierte Teil der afghanischen Gesellschaft nicht die vom Westen bereitgestellten Waffen benutzt, um seine Modernität mit Waffengewalt gegen die Taliban zu verteidigen, sondern kapituliert, um das eigene Leben zu retten und nun in den Westen auszuwandern. Das Scheitern der Westernisierung der übrigen Welt verringert mit der „Migrantenrevolution“ nicht nur den Modernisierungsdruck auf die vormodernen Teile der dortigen Gesellschaften, sondern erhöht zugleich den politischen Druck auf die westlichen Gesellschaften.