Mit „Dante’s Peak“ drehte Roger Donaldson 1997 einen viel geschmähten Katastrophenfilm: Ein taffer Naturwissenschaftler namens Harry sagt einen unmittelbar bevorstehenden verheerenden Vulkanausbruch voraus und rät dringend zur sofortigen Evakuierung des Städtchens am Fuße des Berges. Der Stadtrat und Harrys Vorgesetzte ignorieren das. Man will den Tourismus nicht gefährden und einen Großinvestor nicht abschrecken. Es kommt, wie es immer in amerikanischen Katastrophenfilmen kommt … Donaldson wurde aber zu Unrecht gescholten. Deutschland erlebte gerade erst dieses Szenario.
Die sintflutartigen Wassermassen, die vom 14. zum 15. Juli 2021 die Gegend um Mosel und Ahr sowie das westliche Nordrhein-Westfalen binnen weniger Stunden teilweise in eine Schuttlandschaft verwandelten und mindestens 184 Menschen das Leben kosteten, sind zeitig genug vorhergesagt worden. Bereits vier Tage vor den ersten Überflutungen hatte das Frühwarnsystem EFAS (European Flood Awareness System) deutliche Hinweise an die deutschen Behörden darauf gegeben, was da kommen wird. Das EFAS ist ein Beleg dafür, dass europäische Institutionen durchaus auf Bedrohungslagen reagieren können. Das System wurde nach den Flutkatastrophen des Jahres 2002 eingerichtet. Seine Vorhersagezuverlässigkeit hat es diesmal offensichtlich unter Beweis gestellt.
Die Behörden des Bundes wussten, was auf die Menschen zukommt, sie waren gewarnt worden. Sie haben erbärmlich – und das auf der ganzen Linie – versagt.
Der Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), Armin Schuster, setzte, ohne rot zu werden, fünf Tage nach der Katastrophe – die Zahl der aufgefundenen Toten überstieg bereits deutlich die Einhundertergrenze – in den ARD-Tagesthemen die dreiste Behauptung in die Welt, „Unser Warnsystem hat funktioniert in jedem einzelnen Fall.“ Das BBK biete es, so Schuster, den Ländern und Kommunen an, wenn – und wie – sie warnen wollen. Eine Art Katastrophen-Katalog also. Man kann kaufen, muss aber nicht. Hier haben wir „Dante’s Peak“ … Und dann kommt die Ausrede Schusters: 150 Warnungen seien „über das System“ geschickt worden.
Es war wie im Gleichnis vom Sämann (Markus 4, 3-9). Keiner hatte Ohren zu hören, keiner war’s schlussendlich gewesen. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) verweist auf die Zuständigkeit von Landkreisen und Landesregierungen. Man sollte ihm eine Verwaltungskarte der westdeutschen Regionen schenken, da war nicht nur ein Landrat betroffen … Immerhin hatte zum Beispiel Landrätin Julia Gieseking (SPD) am 14. Juli um 21.03 Uhr für die Vulkaneifel den Katastrophenfall ausgerufen. Da war aber schon allseits „Land unter“. Am Nachmittag desselben Tages fielen an einigen Orten bis zu 120 Liter Regen pro Quadratmeter. Die meisten Menschen wussten nicht, was auf sie zukommen wird. Als sie es bemerkten, war es zu spät. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) schwätzte da immer noch von Hochwassern, die am Rhein zur Normalität gehörten.
Ach ja, „das System“ Schusters: Das sind neben den regionalen Behörden die Warn-Apps (die nur 10 Prozent der deutschen Bevölkerung auf dem Smartphone haben – übrigens hat am Katastrophenabend noch nicht einmal die vorgeschriebene Vernetzung der beiden deutschen App-Systeme funktioniert) sowie Rundfunk und Fernsehen. Gesendet haben die Medien allerdings erst, als das Wasser schon da war. Die Bevölkerung der betroffenen Gebiete erreichten die Warnungen und Verhaltenshinweise nicht oder erst mit erheblicher Verspätung. Viele Menschen wurden wortwörtlich vom Wasser aus dem Schlaf gerissen. Die Behörden wussten, was auf die Menschen zukommt. Sie haben auf ganzer Linie versagt.
Über die privaten elektronischen Medien reden wir an dieser Stelle besser nicht. Die stellten post festum ihre Moderatoren teils bis zur Hüfte in die dreckige Brühe, um möglichst eindrucksvolle Bilder über den Sender bringen zu können. Das erhöht die Einschaltquote und ist gut für künftige Werbeverträge. Mehr ist zu diesen Leuten nicht zu sagen.
Die zitierte Bundeanstalt hat übrigens Eingriffskompetenzen nur für den Verteidigungsfall. Wer einigermaßen über die Dimensionen eines möglichen Konfliktes der NATO, sagen wir mal mit Russland, im Bilde ist, weiß, dass dieses Amt dann de facto nicht mehr handlungsfähig sein würde. Es ist also in seiner jetzigen Struktur vollkommen überflüssig. Sein aktuelles Versagen ist politisch programmiert. Armin Schuster weiß das. Er beklagt selbst, dass sein Amt ganz viel Knowhow aber wenig Zuständigkeiten habe.
Innenminister Seehofer wiederum will das mitnichten ändern. Stephan Stuchlik (tagesschau.de) zitierte den Innenminister nach der Sondersitzung des Bundestagsinnenausschusses vom 26. Juli: „Der Katastrophenschutz in Friedenszeiten muss von den Bundesländern gewährleistet werden. Das ist genauso wichtig wie die föderale Struktur der Sicherheitsorgane.“ Und wenn die Leute zuhauf absaufen, föderale heilige Kühe werden nicht angetastet!
Diese politische Verweigerungshaltung deckt sich mit der Grundaussage einer „Gesamtlageeinschätzung“ aus Seehofers Zuständigkeitsbereich vom 14. Juli (!), die den Abgeordneten des Bundestages zugänglich gemacht wurde: „Von einer großflächigen Hochwasserlage mit länderübergreifendem Koordinierungsbedarf durch den Bund wird derzeit nicht ausgegangen.“ Es sei nicht mit einem „bevölkerungsschutzrelevanten Schadensereignis“ zu rechnen, zitiert selbst BILD dieses schändliche Vogel-Strauß-Dokument.
Natürlich gibt es politische Gründe für den zum Himmel stinkenden Handlungsunwillen. Das Land steckt im Wahlkampf. Da greift doch „der Bund“ nicht so einfach einem Kanzlerkandidaten ins Steuer. Wobei dessen Politik nicht schuldlos am gehabten Desaster ist. Seine albernen Witzchen nach der Flut – geschenkt. Täglich aber verliert Nordrhein-Westfalen 17 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche an den Bausektor. 23,5 Prozent des Bundeslandes bestehen inzwischen aus Siedlungs- und Verkehrsflächen. NRW steht nicht allein. Nach Angaben des Umweltbundesamtes gingen zwischen 1992 und 2018 in der Bundesrepublik jedes Jahr durchschnittlich 178 Quadratkilometer Bodenfläche an Bauvorhaben verloren, hauptsächlich an Verkehrsbauten, die sich zudem durch einen hohen Versiegelungsgrad auszeichnen. Inzwischen sind 6,5 Prozent der Gesamtfläche der Republik versiegelt. Aufgrund einer geradezu irrsinnigen Verkehrsplanungs- und Wohnungsbaupolitik werden diese Werte noch zunehmen. Für’s Wasser ist da immer weniger Platz. Schlussendlich für die Menschen auch nicht …
Aber die Kommunen, die müssten doch ein Interesse an wirkungsvollen Maßnahmen haben? Eben nicht. Vor die Wahl gestellt, ob eine Wiese am Bach zugunsten eines Gewerbegebietes aufgegeben werden soll oder nicht, dürften die meisten Bürgermeister sich immer noch für das Gewerbegebiet entscheiden. Auch wenn die Berghänge rings um den eigenen Ort längst keine Wälder mehr tragen … Da hilft dann auch keine Nina-App. Das Wasser ist immer stärker und sucht sich seinen eigenen Weg.
Apropos App. Dass neben den fast überall abgeschraubten Sirenen zuverlässigste Warnsystem Cell Broadcasting hat zudem den unschlagbaren Vorteil, zugleich konkrete Verhaltenshinweise liefern zu können. Cell Broadcasting wurde von der Bundesregierung auf europäischer Ebene blockiert. Die USA, Frankreich, die Niederlande, Italien und Polen setzen es erfolgreich ein. Die deutsche Verweigerungshaltung ist nicht nachvollziehbar. Wahrscheinlich werden unsere Enkel irgendwann erfahren, welche Entscheidungshilfen in dieser Frage in welche Taschen gesteckt wurden …
Jedenfalls hat am Montag der vergangenen Woche der Innenausschuss des Deutschen Bundestages sondergetagt. Herausgekommen ist nicht viel. Man will miteinander reden. Man will prüfen. Man will Konzepte entwickeln. Vor allem will man am 26. September wiedergewählt werden.
Die Abgeordneten wissen, was gegebenenfalls auf die Menschen zukommen kann. Viele haben ihre Wahlkreise in den deutschen Katastrophenregionen.
Verantwortlich ist natürlich niemand. Nach dem ungeschriebenen Verhaltenskodex der europäischen Demokratien müsste es Rücktritte hageln: Horst Seehofer, Armin Laschet, Malu Dreyer mindestens. Die sind unmittelbar zuständig. Auch der Herr Schuster ist eigentlich nicht mehr haltbar. Aber das wird nicht passieren. Für Regen kann schließlich keiner was. Außerdem „haben wir ein großartiges Klimapaket geschnürt“ (Armin Laschet). Das greift irgendwie in 15 Jahren. Oder auch nicht. Bis dahin ist es eine treffliche Ausrede für handlungsunwillige und handlungsunfähige Politikerinnen und Politiker.
Sie haben versagt. Unser Land wird miserabel regiert. Und Besserung ist nicht in Sicht.
Schlagwörter: Günter Hayn, Hochwasser, Katastrophe, Politik