Dass der Krieg in Afghanistan auch ohne Erfolg (die Militärs würden von „Sieg“ sprechen) zu Ende gehen könnte, kam in den Kalkulationen der Planer zwischen Washington, Brüssel, Berlin und Canberra nicht vor. Überheblich dachte man, mit den „mittelalterlichen“ oder sogar „steinzeitlichen“ Taleban werde man schnell fertigwerden. Donald Rumsfeld schlug Ende 2001 sogar ihr Kapitulationsangebot aus, das an Washingtons Zögling und späteren Präsidenten Hamed Karzai gelangt war. Der hielt sich, von US-Spezialkräften geschützt, nach den Anschlägen des 11. Septembers in Südafghanistan auf, wo er einen kleinen Aufstand anzettelte – offenbar eine Qualifikationsmaßnahme für sein späteres Amt.
Da eine Niederlage keine Option war, gab es lange auch keine Pläne, was mit jenen afghanischen Menschen geschehen würde, die bei den westlichen Stellen angestellt waren und nach einem Abzug ihrer Arbeitgeber im Land bleiben würden. Die Taleban haben sie pauschal zu „Kollaborateuren“ erklärt. Viele erhielten Drohbriefe, mussten untertauchen. Manche ließen ihre Familien zurück, nur um festzustellen, dass diese ebenfalls bedroht wurden, um ihrer habhaft zu werden. Einige wurden auch ermordet.
Im deutschen Falle waren die sogenannten Ortskräfte für die Bundeswehr oder von dieser beauftragte Unternehmen – deutsche, afghanische oder aus Drittstaaten –, die Polizeiausbildungsmission, diplomatische Missionen oder die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) tätig – Institutionen der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit. Oft viele Jahre lang. Sie arbeiteten als Dolmetscher, Wachleute oder Fahrer, als hochqualifizierte Projektmanager von Wiederaufbauprojekten, wuschen als Ungelernte die Wäsche der ausländischen Soldaten oder putzten deren Klos.
Mitte April hatte Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer von einer tiefen Verpflichtung der Bundesrepublik gesprochen, die Ortskräfte nicht schutzlos zurückzulassen. Das müsse wegen des nun endgültigen Abzugs „schnell“ geschehen. „Wir haben aus meiner Sicht eine veränderte Situation“, sagte sie. „Und das bedeutet möglicherweise eine andere Sicherheitslage und eine andere Bewertung.“
Sichtbares ist seither nicht geschehen, außer dass den Ortskräften ermöglicht wurde, bei ihren Arbeitgebern sogenannte Gefährdungsanzeigen aufzugeben. Sofort gab es Bremser, und wie gewöhnlich in Asylsachen sitzen diese allem Augenschein nach im Bundesinnenministerium (BMI). Dort hieß es, man habe bewährte Prozeduren, die nicht verändert werden bräuchten. Schon 2014, als mit dem Ende der ISAF-Mission der Großteil der westlichen Truppen das Land verließ (ein erstes indirektes Eingeständnis des Scheiterns einer militärischen „Konfliktlösung“), nahmen verschiedene westliche Staaten Ortskräfte auf. 800, plus Familienangehörige, kamen nach Deutschland. Aber die Kriterien für die individuelle Gefährdung waren hoch – und als Verschlusssache eingestuft. Bekannt wurde, dass die Antragsteller nachweisen mussten, dass für Bedrohungen durch die Taleban ihre Tätigkeit für deutsche Stellen entscheidend ist. Nach Medienrecherchen sollen damals 60 Prozent aller Anträge abgelehnt worden sein. Zwischen 2014 und 2021 wurden gerade noch einmal 15 weitere Ortskräfte aufgenommen. Viele mussten im Land bleiben. Einige machten sich auf eigene Faust auf den Weg, auf den üblichen gefährlichen Routen über das Mittelmeer.
Angesichts der neuen Sicherheitslage ist diese Prozedur nicht mehr zumutbar. Der wichtigste Bundeswehrstandort im nordafghanischen Masar-e Scharif ist bereits geschlossen; die verbleibenden Soldaten bauen nur noch ab und packen. Wohin sich die Ortskräfte wenden sollen, ist bisher nicht klar. Von zwei Büros – eines in Masar, eines in Kabul – ist die Rede, aber bisher existieren sie nicht. Und wenn, wären sie Anschlagsziele für die Taleban. Bundeswehr-Hauptmann Marcus Grotian, der schon vor Jahren das „Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte“ ins Leben rief, sagte der Tagesschau: „Hier geht es nicht darum, ob jemand keine zehn Euro kriegt, die ihm zustehen, sondern ob er hinterher tot ist.“
Unbekannt ist auch die Zahl der gegenwärtig oder kürzlich noch beschäftigten Ortskräfte der deutschen Regierung. Diese ist bei diesem Thema wenig transparent. Sie argumentiert mit Datenschutz. Bei der Bundeswehr sollen nach Informationen der Tagesschau aktuell beziehungsweise bis in die vergangenen zwei Jahre (das derzeitige offizielle Kriterium um überhaupt einen Antrag stellen zu können) rund 520 Personen einen Arbeitsvertrag gehabt haben. Dazu wohl ein paar Dutzend Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes sowie eine größere Zahl, die für die GIZ oder die KfW gearbeitet haben. 2014 waren es knapp 1400, heute wohl noch einige hundert. Damals, so die Medienrecherchen, sollen hochrangige GIZ-Vertreter nach Schilderungen von Teilnehmern ihren afghanischen Mitarbeitern gesagt haben, dass eine Ausreise nach Deutschland für sie nicht möglich sei. Oder man müsse kündigen – und damit seinen Lebensunterhalt aus Spiel setzen, ohne zu wissen, ob man am Ende angenommen wird. Auch jetzt wieder gibt es Hinweise auf ähnliche Zumutungen. Entwicklungsminister Gerd Müller, dem GIZ und KfW unterstehen, ist der Ansicht, dass sich „für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit […] die Frage nach einer pauschalen Aufnahmezusage für afghanische Ortskräfte nicht“ stelle. Anders als die Bundeswehr werde man weiterhin in Afghanistan tätig bleiben. „Wir sind und bleiben auf Ortskräfte angewiesen, um Projekte und Programme im Land umzusetzen“, sagte er, und das ist auch sinnvoll und richtig, selbst wenn die Taleban an die Macht kommen. Afghanistans Bevölkerung lebt ja zu mindestens 80 Prozent unter der Armutsgrenze und etwas dagegen zu tun, ist der zentrale Auftrag von Entwicklungspolitik.
Nur: Es ist völlig unklar, ob die Taleban das auch so sehen. Nicht zuletzt, weil ein großer Teil der deutschen Entwicklungsgelder über die Bundeswehr ausgereicht wurde – eine Verquickung, die viele erfahrene NGOs frühzeitig, aber erfolglos als sie und ihre Mitarbeiter gefährdend kritisiert hatten. Auch lehnt die Bundesregierung ab, die afghanischen Angestellten der für die Bundeswehr arbeitenden Unternehmen als antragsberechtigte Ortskräfte einzustufen. Auch hier geht es wohl um mehrere hundert Menschen.
Die Fakten deuten daraufhin, dass Kramp-Karrenbauers Ankündigung einer schnelleren Bearbeitung nicht umgesetzt wird. Offensichtlich will man den Ortskräften zumuten, riskante Reisen über Land und zu den deutschen Vertretungen in Islamabad oder Delhi zu unternehmen, denn die Visastelle der Botschaft in Kabul ist seit Jahren geschlossen. Der Höhepunkt deutscher Bürokratie aber ist: Die angenommenen Kandidaten sollen ihre Flüge nach Deutschland selbst bezahlen.
Woanders war man erst einigermaßen großzügig, dann restriktiv, und versucht nun vorsichtig, sich wieder konzilianter zu verhalten. In den USA wurden unter Trump laufende Aufnahmeverfahren eingestellt, einige Sondervisa sogar widerrufen. Jetzt macht dort eine Initiative unter dem Namen „Leave No One Behind“ (hierzulande ein Slogan der Bewegung der Flüchtlingsunterstützer) Druck für die Ortskräfte, zu der führend David Petraeus gehört, der frühere Kommandeur der US-Truppen in Afghanistan und spätere CIA-Direktor. In Großbritannien will man nach einer restriktiven Phase 3000 zusätzliche Ortskräfte aufnehmen; bisher waren es 1300.
Petraeus schlägt eine Neuauflage der sogenannten Guam-Lösung vor, eine Luftbrücke für kurdische Verbündete der USA im Jahr 1996. Sie wurden zunächst auf diese Pazifikinsel mit großem US-Stützpunkt gebracht, um sie vor der völkermörderischen Anfal-Kampagne Saddam Husseins zu retten, um dann in die USA weiterreisen zu können.
Auch die Bundesregierung hätte einfache Optionen. Ortskräfte könnten auf den Oberdecks ihrer Transportmaschinen mitfliegen, die gerade massenhaft Material aus Afghanistan ausfliegen. Sie könnten auch mit den Bundeswehrflügen evakuiert werden, mit denen gerade technische Hilfe zum Kampf gegen die Corona-Pandemie nach Indien geflogen wird. Auf ihrem Rückweg könnten sie in Kabul zwischenlanden. Auch Linien- und Charterflüge nach Kabul sind Optionen.
Die Ortskräfte sind aber nicht die einzige Gruppe in Afghanistan, die der Truppenabzug aus Afghanistan gefährdet. Der frühere Grünen-Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei schrieb auf seiner Webseite: „Hundertfach haben deutsche Politikerinnen und Politiker, insbesondere wir Bundestagsordnete, gegenüber afghanischen Frauen und Männern über die Jahre gelobt: Wir lassen Euch nicht im Stich!“ Angesichts des „bedingungslosen und hastigen Abzuges aller internationalen Truppen“ und angesichts einer „Mordkampagne gegen Reformkräfte in Afghanistan“ komme jetzt die „Nagelprobe für die Restglaubwürdigkeit der Staatengemeinschaft’“, insbesondere ihrer westlichen „Wertegemeinschaft“, und für die Unterstützer einer Friedensentwicklung in Afghanistan. Er fragt: „Was geschieht mit den demokratischen und Reformkräften, die die Rache der Taliban fürchten müssen? Was geschieht mit der weiblichen Hälfte der afghanischen Bevölkerung? Was geschieht mit den Abertausenden Soldaten, Offizieren und Polizisten, die von deutschen Soldaten und Polizisten ausgebildet und beraten wurden, die zeitweilig gemeinsam im Einsatz waren?“ Und: „Wie kann der übliche Trend gebrochen werden, dass in Konfliktländern mit dem Abzug internationaler Truppen meist auch internationale Aufmerksamkeit, Interesse und Unterstützung schwinden?“
Der Autor sowie W. Nachtwei sind Mitinitiatoren der „Initiative zur Unterstützung der Aufnahme afghanischer Ortskräfte“, die mittlerweile mehr als 100 Unterzeichner gefunden hat, darunter namhafte Politiker, führende Friedensforscher und Ex-Kommandeure des Bundeswehrkontingents und der ISAF-Truppen in Afghanistan.
Schlagwörter: Afghanistan, Bundeswehr, Ortskräfte, Sicherheitslage, Taleban, Thomas Ruttig, Truppenabzug