Im Süden spielt sich, so hört man immer wieder, ein großer Teil des Lebens auf der Straße ab: Man isst und trinkt dort, unterhält sich, lässt sich unterhalten, Gaukler treten auf und Komödianten. In Berlin dagegen wandern höchstens mal ein paar fremdländische Musiker straßauf, straßab, leiern ihr immergleiches „Besame mucho“ herunter, und wenn man sich endlich aufgerafft hat und zum Portemonnaie greift, sind sie schon wieder verschwunden. Erst in letzter Zeit ist – coronabedingt – auch hierzulande auf den Bürgersteigen mehr Betrieb; vor einiger Zeit gab es bei uns um die Ecke, in der Hufelandstraße, sogar eine Art Open-Air-Festival. Doch den größten Teil der Kultur im Straßenraum steuern immer noch die Bücher bei. Erstaunliche Funde sind da mitunter zu verzeichnen: So lag neulich nahe beim Alexanderplatz eine vor bald hundert Jahren neu aufgelegte Ausgabe von Oehlenschlägers „Poetiske Skrifter“ auf der Straße. Der Dichter war eine der großen Figuren der dänischen Literatur des 19. Jahrhunderts, ein Dänisches Institut für Information und kulturellen Austausch in 4600 Dortmund hat den Band vormals besessen – aber wie ist er nach Berlin gekommen? Dazu an diesen Ort? Die privaten Aushänge hingegen, auch sie ein Teil dieser Kultur, sind seltener geworden – es scheinen nicht mehr so viele Katzen zu entlaufen, und auch mit den Schwaben in Prenzlauer Berg hat man sich wohl abgefunden.
Letzten Sonnabend habe ich bei schönstem Sonnenschein und kaltem Wind aus Nordwest mal wieder einen Büchersuchlauf unternommen, von der Chausseestraße kreuz und quer durch Mitte bis zur Liebknechtstraße, Ecke Prenzlauer Allee. Gleich der erste Fund ist ein Schwergewicht: In einem Bauschuttcontainer an der Schlegelstraße steckt in einem Plastebeutel „Vegan for fit“ von Attila Hildmann, der anfangs doch mehr war als nur ein Verschwörungsfabulierer und Coronaleugner. Das umfangreiche Buch ist gut erhalten, hätte mich aber zu sehr belastet, also stelle ich es auf den nächstgelegenen Fenstersims. Auf einem solchen Sims bei uns in der Bötzowstraße habe ich unlängst auch etwas zum Thema Corona entdeckt, das ich umgehend meiner Sammlung von Zeitdokumenten beigefügt habe – drei Blätter A4, von Hand geschrieben und dann maschinell kopiert: Jesus liebt Dich, also nicht zum Arzt gehen, bloß nicht impfen lassen – Gott ist Dein Arzt, Impfen schadet der DNA …
Einmal rechts, einmal links um die Ecke, und ich bin in der Schröderstraße; vor dem Corona-Testzentrum steht ein gutes Dutzend Interessenten, ansonsten sind Trottoir und Fahrbahn fast leer. Auch hier sind Bücher im Angebot: Diana Beate Hellmanns „Zwei Frauen“, Heinz G. Konsaliks „Ein Mensch wie Du“ und Gwen Bristows „Kalifornische Symphonie“, alles typische Vertreter der Wühlkistenliteratur. Sie rümpfen die Nase, werter Herr? Beim 244. bis 303. Tausend war besagter Konsalik damals angekommen, während Sie mit all ihren Büchern zusammen wohl kaum das 1. Tausend erreicht haben! Der so Angesprochene seufzt und wendet sich zum Weitergehen, nicht ohne zuvor rasch zu notieren, was für eine leere Sektflasche da im Hauseingang steht: Brut Rosé, Crémant de Limoux, keine schlechte Sorte sicherlich. Gleich daneben ein abgefackeltes Motorrad – die unscheinbare Schröderstraße erweist sich als Ort der Extreme.
Nach rechts geht es nun in die Borsigstraße, und hier klemmt gleich an der Ecke hinter einem orangefarbenen Müllbehälter das Werk eines Juristen. „BilderRecht“ ist sein Titel, und es liegt darin ein Schreiben vom Januar 2012: Sehr geehrter Herr …, haben Sie noch einmal herzlichen Dank für den spannenden Vortrag … Ich möchte Ihnen gern ein Exemplar meines neuesten Buches schenken … Vielleicht haben Sie ja Lust, mal reinzuschauen? Dies scheint der Empfänger, der beim Bundesministerium des Inneren im Referat O2 beschäftigt ist oder war, auch getan zu haben: Mancherlei ist unterstrichen, zumindest auf den ersten Seiten. Bebildert ist das Werk leider nicht, also stecke ich es mit den Worten „Vornehme Gegend hier“ an seinen Platz zurück.
Bald darauf ist die Torstraße überquert, ich nähere mich dem Koppenplatz. Eine Pause wäre nicht schlecht, doch alle Bänke rund um das Geviert sind besetzt. Vor ein paar Wochen habe ich auf einer dieser Bänke Remarques „Im Westen nichts Neues“ entdeckt; das Buch steckte in einer Plastehülle, ein beigefügter Zettel sagte mir, es sei hier nicht vergessen worden, sondern solle uns zum Lesen ermuntern. Danke, sehr freundlich. Aber ich lese nur selten noch, stehe ratlos vor wohlgefüllten Bibliotheksregalen, vor den Schaufenstern der Buchhandlungen und weiß nicht einmal zu sagen, was ich denn nun suche.
Zuletzt führt mich mein Weg durch die ermüdend lange Linienstraße; das einzige Buch, das ich hier finde, ist ein altes, völlig zerschlissenes Schulkochbuch der Fa. Oetker. Interessant sind solche Kochbücher oft nur durch das, was einstige Besitzerinnen darin hinterlassen haben: In dem Falle sind es ein Kassenzettel aus dem Jahre 2003, ein Blatt von einem Abreißkalender mit einem Ausspruch Nikita Chrustschows und eine aus einer West-Illustrierten der 50er Jahre herausgetrennte Seite mit Backrezepten. Die werde ich aufbewahren. Am Ende der Straße entdecke ich in einem Karton noch ein paar Kundenzeitschriften einer Kaffeefirma. Einst gab es solche Blätter zuhauf, in Heftchengröße fast alle und auf billigem Papier gedruckt. Feuilletonchef von Ruetz’ Bettenzeitung – nur mal als Beispiel –, das war schon ein erstrebenswerter Posten, Rubriken wie „Das alte Kopfkissen erzählt“ oder „Matratze intim“ waren Publikumslieblinge, und manch kleiner Autor träumte davon, dort einmal mit seinen Texten unterzukommen. Diese Kaffee-Postillen … schön anzuschauen sind sie ja, aber was soll ich damit – ich lasse sie liegen.
Zurück dann mit dem 200er Bus bis zur Bötzowstraße, und dort war an jenem Tage an einem der weiß-roten Absperrgitter nahe der Kurt-Schwitters-Schule mit Klebestreifen ein Aushang ganz eigener Art befestigt: „Reserviert für meine Elefanten“ teilt uns eine Emilia in krakligen Großbuchstaben mit, daneben hat sie einen kleinen dicken Elefanten gezeichnet.
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