24. Jahrgang | Nummer 10 | 10. Mai 2021

Modis geplatzte Träume

von Edgar Benkwitz

Der indische Premierminister Narendra Modi und seine hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) befinden sich gegenwärtig in schwerem Fahrwasser. Hauptgrund dafür ist das Versagen der staatlichen Organe bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, die das Land fest im Griff hat. Trotz Warnungen vor einer zweiten Welle der Pandemie wurden die beträchtlichen Ressourcen des Landes nicht genutzt, um Vorkehrungen zu treffen. Stattdessen herrschten Sorglosigkeit, Selbstzufriedenheit und Überheblichkeit vor. So bezeichnete man sich stolz als die „Apotheke der Welt“, Modi selbst nannte sich „Vishwaguru“(großer Guru), der alles im Griff hat. Auf dem virtuellen Davos-Treffen erklärte er noch selbstbewusst, dass Indien das Virus erfolgreich besiegt habe. Die Quittung kam nur wenige Wochen später, als die Pandemie mit ungeheurer Wucht Indien heimsuchte und es kaum noch Mittel gab, sich ihr entgegenzustellen. In kurzer Zeit verschwand der Anspruch Indiens und seiner Politiker, der Welt umfassend zu helfen; stattdessen musste sich das Ausland um Indien kümmern. Zweifelsohne wird das Pandemie-Geschehen Auswirkungen auf die indische Politik haben. Nicht zuletzt ist der ehrgeizige Anspruch, als Großmacht behandelt zu werden, erst einmal beträchtlich beschädigt.

Neben der Pandemie mit ihren bisher nicht übersehbaren Folgen auf wirtschaftlichem und vor allem auf sozialem Gebiet hat die hindunationalistische Führung noch andere Sorgen. So stieß der fanatische Anspruch, ganz Indien mit ihrer Ideologie und Politik zu überziehen, erneut auf fühlbare Grenzen. Das offenbarten Landtagswahlen in einigen Bundesstaaten, von denen Westbengalen mit seinen 100 Millionen und Tamilnadu mit 80 Millionen Einwohnern besondere Bedeutung zukam. In beiden Staaten regieren seit langem regionale Parteien, die auf einem landestypischen Nationalismus basieren und der extremen Hinduideologie abgeneigt sind. Liberales und säkulares Gedankengut sind hier tief verankert.

Westbengalen mit seiner charismatischen Ministerpräsidentin Mamata Banerjee erwies sich in der Vergangenheit zudem als scharfer Kritiker der Politik in Neu Delhi. Wie kaum jemand anders im Land geißelte Frau Banerjee das Vorgehen der Modi-Regierung in vielen Fragen. Diese Stimme zum Schweigen zu bringen und darüber hinaus den aufmüpfigen Unionsstaat in den Herrschaftsbereich der nationalistischen Hindupolitik einzubeziehen, war das erklärte Ziel. Wie nie zuvor setzte die BJP dafür alle denkbaren Mittel ein. So wurden Spitzenfunktionäre von Banerjees Partei, dem Trinamool Congress(TMC) und Minister ihrer Regierung abgeworben. Sie erhielten dafür ein BJP-Ticket für einen Wahlkreis. Auch wurde die Wahlperiode auf fünf Wochen ausgedehnt und in acht Wahltermine unterteilt, um möglichst viele Auftritte von Spitzenkräften der BJP zu ermöglichen. Das wurde weidlich genutzt. Premier Modi sowie Parteipräsident Shah besuchten das Land in den wenigen Wochen je zwanzig Mal. Absolut ungewöhnlich für Landtagswahlen, noch dazu zu einer Zeit, wo sich die Corona-Lage immer mehr zuspitzte. Westbengalen sollte im wahrsten Sinne des Wortes sturmreif geschossen werden. Doch das Vorhaben misslang. Überzeugender Wahlsieger wurde wieder die Partei von Frau Banerjee, die damit ihre dritte Amtsperiode antritt. Im Landesparlament mit 292 Sitzen gewann sie 213, die BJP erhielt nur 77 Mandate. Übrigens ging die traditionelle Kongresspartei leer aus und die Kommunisten, die das Land bis 2011 34 Jahre lang regiert hatten, gewannen nur einen Sitz. Die Times of India bemerkt dazu: „Der TMC bleibt das größte Hindernis für das Ziel der BJP, seinen Machtbereich in Ostindien auszudehnen.“

Auch in Tamilnadu, mit seiner Hauptstadt Chennai(Madras), hat der extreme Hindunationalismus kaum Unterstützer. Liberale und säkulare Werte werden wie in Westbengalen hoch bewertet. Die politische Landschaft wird seit eh und je durch der Politik von zwei tamilischen Parteien bestimmt. Obwohl programmatisch eng verwandt, stehen sie sich unversöhnlich gegenüber, bei der Regierungsausübung wechseln sie sich je nach Wählergunst immer mal wieder ab. Der BJP kam es darauf an, hier Fuß zu fassen, um langfristig in das politische Geschehen eingreifen zu können. Im Vorfeld der Wahlen setzte sie auf die regierende AIDMK und handelte ihr einige Wahlkreise ab. Doch man hatte auf das falsche Pferd gesetzt. Im Landtag mit seinen 234 Sitzen errang die AIDMK nur 74, der siegreiche Konkurrent DMK erhielt dagegen 156 Mandate. Doch immerhin zieht die BJP mit vier Abgeordneten in den Landtag ein. Am 7. Mai wird der neue Ministerpräsident von Tamilnadu vereidigt. Es ist der Parteipräsident der DMK, M.K.Stalin. Den ungewöhnlichen Namen erhielt der Politiker in den frühen fünfziger Jahren von seinem Vater Karunanidhi aus Begeisterung für die damalige Sowjetunion. Karunanidhi war selbst viele Jahre Ministerpräsident von Tamilnadu. Sein Sohn M.K.Stalin setzt nun diese Tradition fort. Doch mitUdhayanidhi Stalin, Sohn und Enkel der Vorgenannten, steht schon die dritte Generation bereit. U.Stalin ist Chef der Parteijugend, er errang bei den Wahlen ebenfalls einen Sitz im neuen Landtag.

Doch mehr als die Wahlen beschäftigt das Pandemiegeschehen mit seinen katastrophalen Auswirkungen die indische Öffentlichkeit. Die Vorwürfe an die Regierung wegen des Versagens in der Corona-Politik mehren sich. Auch Narendra Modi wird nicht verschont. „Der Premierminister hat sich selbst zum Retter der Nation erklärt, der jedes Problem lösen kann. In Wirklichkeit kann die BJP nicht länger beanspruchen, das beste Regierungsmodell zu besitzen“, heißt es in der Times of India vom 5. Mai. Und weiter zu Modi: „Sein Status in Indien und der Welt hat bedeutend gelitten.“ In die Diskussion fließen auch die erwähnten Landtagswahlen ein, in denen die BJP mit ihrer Strategie gescheitert ist. Die Frage wird aufgeworfen, ob das alles zu einem Überdenken und eventueller Modifizierung des weiteren politischen und ideologischen Vorgehens der BJP führen wird. Doch noch ist die Partei fest im Sattel. Über innerparteiliche Kritik oder gar Opponenten zu Modi ist nichts bekannt. Vergessen wir nicht, die BJP wird autoritär geführt, sie ist ideologisch einheitlich ausgerichtet.

Die gegenwärtige Lage ist zudem dadurch bestimmt, dass es faktisch keine organisierte und wirksame politische Opposition zur BJP gibt. Die ehrwürdige Kongresspartei, die viele Jahre das Land regiert und gestaltet hat, zerfällt immer mehr. Auch die früher sehr einflussreiche kommunistische Bewegung spielt für Gesamt-Indien keine Rolle mehr. Die Kritik an der Regierungspolitik und der hindunationalistischen Partei wird weitgehend von liberalen Einzelpersönlichkeiten vorgetragen. Es fehlt eine politische Plattform, die wirksam für eine Neugestaltung der politischen Verhältnisse auftreten könnte. Angesichts dieses Vakuums gibt es erneut Gedanken, ein Bündnis von Regionalparteien zu schaffen, das der Zentralregierung Paroli bieten könnte. Im Gespräch für die Führung einer derartigen Front ist Mamata Banerjee, die Wahlsiegerin von Westbengalen. Doch Frau Banerjee steht exemplarisch für andere regionale Persönlichkeiten des gegenwärtigen Indien: alle verdanken ihre Erfolge und ihre Stärke der Verbindung zu ihrem Unionsstaat und dessen Eigenheiten. Ihre Wirkung über diesen Staat hinaus ist begrenzt, es fehlt eine landesweite Programmatik, die überall akzeptiert werden kann. In der Vergangenheit gab es schon mehrfach Anläufe, um eine „Gemeinsame Front“ gegen den politischen Gegner zu bilden. Doch diese hatten keine lange Lebensdauer oder scheiterten schon in der Gründungsphase. All das spielt natürlich der BJP mit ihrer organisatorischen Stärke und ihrem Machtapparat in die Hände.

Trotz Kritik der Öffentlichkeit und trotz seiner geplatzten Träume besteht für Narendra Modi und seine Regierung keine akute Gefahr, von der Macht gestoßen zu werden. Doch der Makel, nicht an das Wohl der Nation und seiner Menschen gedacht zu haben und stattdessen eigene Interessen – sprich Absicherung der Wahlerfolge – verfolgt zu haben, wird hängen bleiben.