Sie sah sich selbst „als schwierig, widersprüchlich, einzelgängerisch und rebellisch“. Davon abgesehen hatte sie „eine große Begabung für Freundschaft und ein immer waches Interesse am Schaffen ihrer Kollegen“. Die Rede ist von Marina Zwetajewa, deren Gesammelte Werke seit 2018 im Suhrkamp Verlag erscheinen. Die für den zweiten Band von Ilma Rakusa ausgewählten Texte zeigen Zwetajewa zum einen als Freundin und Kollegin, zum anderen kommt aber auch die scharfsichtige Kritikerin und Essayistin zu Wort.
Wenn Marina Zwetajewa über ihre Zeitgenossen schrieb, dann immer in einer sehr persönlichen Art und Weise, die mehr als eine Rückschau sein sollte. Ilma Rakusa spricht in diesem Zusammenhang von einer „Erinnerungsarbeit als Deutung, mit dem Zweck, aufzuerwecken, selber zu sehen und andere sehen zu lassen“. Solcherart Texte verlangen Aufmerksamkeit. Manches Mal ist es nur ein Halbsatz, der all das ausdrückt, worum es Zwetajewa ging. Dachte sie beispielsweise an den „Literaturpapst“ Walerij Brjussow, so fiel ihr zuerst das Untypische seiner Gedichte ein, „das Liedhafte, die Melodie“. Den Dichter und Maler Maximilian Woloschin beschrieb sie als jemand, der eine seiner wichtigsten Lebensaufgaben darin sah, „Menschen zusammenzuführen, Begegnungen und Schicksale zu schaffen“. Und Andrej Belyj? Der war für sie „ein Egozentriker des Schmerzes, der unheilbaren Krankheit – Leben“.
Werden Zwetajewas Erinnerungen durch eine besondere persönliche Nähe bestimmt, so sucht sie in ihren Essays nach dem Allgemeinen, nach den Regeln des Schreibens und des Literaturbetriebs. Nehmen wir die immer wiederkehrende Frage: Was lehrt die Kunst? Für Zwetajewa steht fest, dass es nichts gibt, „was sie nicht lehrte“. Oder fragen wir, wie sich der Schriftsteller zu seiner Zeit und deren Anforderungen verhalten soll. Ihre Antwort darauf lautet: „Zeitgenosse sein heißt, seine Zeit schaffen, und nicht sie spiegeln.“ Denken wir an die Kritiker, vor allem an jene, die die Arbeit des Dichters als eine bloße Technik sehen. Denen ruft sie zu: „Die erste Pflicht des Lyrik-Kritikers ist, selbst keine schlechten Verse zu schreiben. Zumindest – sie nicht zu drucken.“
Es ging Zwetajewa aber nicht nur um die allgemeinen Wahrheiten. Sie sprach in ihren Texten auch über sich selbst und hinterfragte vor allem ihre Motivation. Für wen schrieb sie? „Nicht für Millionen, nicht für einen Einzigen, nicht für mich. Ich schreibe für den Text selbst. Der Text schreibt, mit meiner Hilfe, sich selbst.“ Und woher kam der Antrieb? „Ich gehorche einem gewissen, ständig, aber nicht gleichmäßig in mir Klingenden, das bald Hinweise gibt, bald Befehle. Wenn es Hinweise sind, streite ich, wenn es Befehle sind, ordne ich mich unter.“ – In ihrem einfühlsamen Nachwort fasst Ilma Rakusa all das mit den Worten zusammen: „Sie tut, was sie tun muss. Und das ist – nicht nur künstlerisch – einzigartig.“
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„Pasternak ist der einzige Zeitgenosse, für den mein Brustkorb nicht ausreicht.“ Dieser Satz findet sich in Marina Zwetajewas Essay „Lichtregen“, Untertitel „Poesie des ewigen Wagemuts“. Entstanden ist dieser jetzt erstmals ins Deutsche übersetzte Text im Sommer 1922, veröffentlicht wurde er kurz darauf in der von Andrej Belyj in Berlin herausgegebenen Zeitschrift Epopeja. Den Anlass dazu lieferte der ihr von Pasternak übersandte Gedichtband „Meine Schwester, das Leben“.
Vor Zwetajewas Emigration im Mai 1922 waren sich die beiden Schriftsteller lediglich einige Male flüchtig in Moskau begegnet. Nur wenige Wochen nach der Ankunft in Berlin hielt sie Pasternaks ersten Brief in der Hand. Beeindruckt von der Lektüre ihrer Gedichte, schrieb er: „Sie sind kein Kind, mein lieber, teurer, unvergleichlicher Poet, Sie sind kein Kind mehr und verstehen, hoffe ich, was das in unseren Tagen und in unserer Lage bedeutet […].“ Auch Zwetajewa fand anerkennende Worte. „Sie sind“, hieß es in einem Brief vom 10. Februar 1923, „der erste Dichter, den ich in meinem Leben sehe.“ Was Pasternak allerdings zu der Bemerkung veranlasste: „Die Themen ,der erste Dichter in meinem Leben‘, ,Pasternak‘ usw. würde ich gerne für immer aus unserem Briefwechsel entfernen.“
So nah sich die Briefpartner in den nächsten Monaten und Jahren auch kamen – es blieben offenbar Zweifel daran, was sich da zwischen ihnen entwickelte. Im Februar 1926 erklärte Pasternak: „Es war eine große Kühnheit, Ihnen meine tolpatschigen, unpersönlichen, nichtssagenden Briefe zu schicken, um die Ihrigen zu erhalten, als Dummkopf aller Dummköpfe vor Ihnen zu stehen, Ihr ,Du‘ anzunehmen und die Luft mit der unerträglichen Dummheit meiner Anrede zu erfüllen.“ Und weiter schrieb er: „Sie konnten nicht anders als von Beginn an die Natur unserer Verbindung wertzuschätzen. […] Weil das keine menschliche Liebesgeschichte ist, sondern das sind Impulse und Berührungen zweier Wissen, die sich plötzlich zusammengefunden haben kraft dieser seismischen Verwandtheit.“ Einen Monat darauf konnte Zwetajewa lesen, sie sei „von Kopf bis Fuß glühendes verkörpertes Vorhaben, wie auch ich, Du bist die unglaubliche Belohnung für meine Geburt, mein Umherirren“.
Wie es weiterging? Das dokumentiert die jetzt erstmals vollständig auf Deutsch vorliegende Korrespondenz der beiden Dichter. Wobei hier gleich auf eine Besonderheit hinzuweisen ist. Während der größte Teil von Pasternaks Briefen erhalten geblieben ist, sind Zwetajewas Schreiben auf geradezu abenteuerliche Weise verlorengegangen. Es existieren lediglich elf Briefe im Original oder als Abschrift. Der weitaus größere Teil wurde anhand von Zwetajewas Entwürfen in den überlieferten Arbeitsheften rekonstruiert. Insgesamt vereint der von Marie-Luise Bott auf der Grundlage der russischen Edition herausgegebene Band zweihundert Briefe und Briefentwürfe, manche davon mehr als zehn Seiten lang. Mustergültig vor allem der Kommentar, der – teils korrigierend – über die Anmerkungen früherer Editionen hinausgeht.
Nach vierzehn Jahren brach der Briefwechsel im Frühjahr 1936 ab. Möglicherweise gab es noch den einen oder anderen Brief, überliefert ist nichts. Als Marina Zwetajewa im Juni 1939 aus dem Exil nach Moskau zurückkehrte, half ihr Pasternak nicht nur bei der Wohnungssuche, er verschaffte ihr auch Übersetzungsaufträge, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Doch war ihr das zu wenig, wie sie einem Freund anvertraute: „Sicher, er kümmert sich um mich, er ist gut zu mir, aber ich hatte mehr erwartet als die Fürsorge eines Reichen, ich hatte die Freundschaft eines Ebenbürtigen erwartet.“
Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht verließ Zwetajewa am 8. August 1941 Moskau. In Jelabuga, 1000 Kilometer entfernt von der sowjetischen Hauptstadt, nahm sie sich am Ende des Monats das Leben. „Pasternak“, so Marie-Luise Bott, „litt unter der Schuld, ihr damals nicht von der Rückkehr in die Sowjetunion abgeraten zu haben. Und er litt unter der Schuld, ihr zuletzt nicht beigestanden zu haben.“
Marina Zwetajewa: „Lichtregen“. Essays und Erinnerungen (Gesammelte Werke, Bd. 2), herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Ilma Rakusa, aus dem Russischen von Nicola Denis, Elke Erb, Rolf-Dietrich Keil, Hans Loose, Olga Radetzkaja, Ilma Rakusa und Ilse Tschörtner, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 903 Seiten, 44,00 Euro.
Boris Pasternak – Marina Zwetajewa: Briefwechsel 1922 – 1936, herausgegeben und übersetzt von Marie-Luise Bott, Wallstein Verlag, Göttingen 2021, 802 Seiten, 39,90 Euro.
Schlagwörter: Boris Pasternak, Briefe, Dichtung, Kunst, Marina Zwetajewa, Mathias Iven