24. Jahrgang | Nummer 10 | 10. Mai 2021

Fatale Maienblüten eines deutschen Kaisers

von Detlef Jena

Durch Weimars Republik hallte in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts höchst kontroverses politisches Liedgut. Sozialdemokraten appellierten vorsichtig an gutwillige Menschen, die Reihen bitte fest zu schließen, Kommunisten rührten nicht nur im Roten Wedding die Trommeln und die Arbeiterklasse marschierte. Die Nazis schlossen ihre Reihen mit erhobenen Fahnen. Die konservative Mitte erbebte tränenreich beim Choral von Leuthen und die Wandervögel suchten ebenso unverdrossen wie vergeblich nach der blauen Blume der Romantik. Das bescheidene einfache Volk, immer gut für demoskopisch modellierte Stimmungsbilder gewitzter professioneller Wahlforscher, die nach der zu nichts verpflichtenden Zufriedenheit des schlichten Schäfers aus der Lüneburger Heide mit der Politik des Reichskanzlers suchten, übte sich in sarkastischem Spott: „Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederhaben!“ Den mit dem langen Bart – also Kaiser Wilhelm I. Ein Gassenhauer nach den Klängen des von Preußen ausgehenden „Fehrbelliner Reitermarschs“. Das Liedlein ist unvergessen und überdies heuer wieder sehr modern! Seine einzige inhaltliche Substanz ist der Naturschutz!

Gewiss: Politische Realität und nostalgisch verfremdete Satire sind bei den Deutschen eine höchst gefährliche Melange! Aber die Strophen des Liedes erinnerten mit ausdrücklich betontem Fragezeichen (sic.) um ja niemand ins soziale Netzwerk des zeitgenössischen Pressewaldes zu rufen daran, dass Kaiser Wilhelm eine „gute alte Zeit“ gewährt hätte, in welcher, das soll aufmerken lassen, der Klimaschutz real gewesen ist! Über dem Rhein schwamm demnach einst eine klare, duftige Luft und aus der Elbe konnte Oma unbedenklich trinken, ohne krank zu werden! Jeder Waldspaziergang glich einer schieren Sauerstoffkur. Das war doch nach 1918 ganz eindeutig ein volksnaher und demokratischer Aufruf zum Klimaschutz in der deutschen Republik!

Doch Wilhelm hätte bei dieser Interpretation natürlich erschrocken die Zigarre fallen lassen und nach dem schmucken Säbel gegriffen. Niemals – wer denkt sich denn so etwas aus! Es war ein Glück, dass die postrevolutionären Verseschmiede der Weimarer Republik nichts davon ahnten, was Wilhelm seiner Frau Augusta am 15. Mai 1866 geschrieben hatte, am Vorabend der Schlacht von Königgrätz gegen Österreich, die ein weiteres Glied an die Kette der deutschen Einheit schmieden sollte. Augusta stammte aus dem klassischen Weimar. Das trug ihr in Berlin den Ruf des romantisch versponnenen Provinzialismus ein, dem sie sich mit ruppiger Wortgewalt und unorthodoxen deutschen Einheitswünschen als Erzfeindin Bismarcks widersetzte. Sie glaubte gar an eine konstitutionelle Reformierung des Reichs! Wilhelm empfahl ihr den inneren Frieden in Wald, Feld und Seele, schließlich hatten sie sieben Jahre einträchtig am schönen Rhein in Koblenz residiert. Doch Umweltschutz? Demonstrativ marschierte er moralisierend auf seine emotionale Frau und die fragile Einheit des Reichs zu. Da war vom sauberen Vater Rhein keine Rede!

Er war schockiert, dass man in den deutschen Klein- und Mittelstaaten behauptete, Preußen trachte danach, alle „nahen und weiten Nachbarn“ verschlingen zu wollen. Nein, die Lösung aller Probleme in Natur und Gesellschaft läge vielmehr bei den föderalen Klein- und Mittelstaaten selbst! Die sollten doch bitte schön im preußisch-österreichischen Konflikt Neutralität üben. Einmal in Rage, polterte er los: „Die Kalamitäten, die vor und während eines Krieges immer eintreten, zeigen sich natürlich jetzt schon bedeutend, […] da alles auf Industrie berechnet ist und niemand an Krieg mehr denken wollte, sondern nur nach Talern, Ellen und Fuß berechnet wird, um zu sehen, wie rasch man reich werden könne!“ Was denn? Die Klein- und Mittelstaaten schützten ihr Hab und Gut und wollten sich nur gegen bare Münze zum Dienst unter preußischen Fahnen und nach den Klängen der „Piefkes“ zu marschieren verpflichten? Und die deutsche Einheit eine Frage des finanziellen Gewinns? Wilhelm tadelte einen solchen Egoismus mit echt preußischem Spott: „Indessen nach dem Frieden, und wenn er auch lange auf sich warten ließe, erholt sich alles wieder, denn die Wohlhabenheit in den Massen ist seit 50 Jahren so gestiegen, dass 10 Friedensjahre ausgleichen, was sonst 40 brauchte.“ Er war ob der zynischen Worte nicht etwa erschrocken, sondern fügte kaltblütig an: „Dies sage ich nicht aus Leichtfertigkeit, um den Krieg zu beschönigen, sondern um dem unwürdigen Geschrei über Geldverlust etc. entgegenzutreten. Immer Geld und nur Geld, und von Patriotismus wird bald in der Welt nicht mehr die Rede sein.“ Er meinte natürlich den propreußischen Patriotismus, damals, als Rhein und Elbe noch wie reines Glas schimmerten, als der deutsche Föderalismus noch unter der Obhut so mancher Kronen jubilierte. Doch irgendwie steckt diese Denkungsart fest in der deutschen Geschichte. Beim Klimaschutz kann man sich jedenfalls nicht auf den langbärtigen Wilhelm berufen, wenn der unwiderstehliche und zählebige Gassenhauer auch das Gegenteil behauptet.