24. Jahrgang | Nummer 8 | 12. April 2021

Über linke Identitätspolitik und Cancel Culture

von Moritz Kirchner

Vor mehr als zehn Jahren wollte Erika Steinbach eine Diskussionsveranstaltung an der Universität Potsdam veranstalten. Dem stellte ich mich als linker Student wortwörtlich in den Weg. Ich fand es unerträglich, dass diese Frau ihre häufig nationalistischen und reaktionären Thesen verbreiten können sollte.

Nach wie vor bezweifle ich, dass eine Universität der richtige Ort ist, um mit Frau Steinbach zu sprechen: Ihr Anspruch ist nicht jener der Wahrheitsfindung, sondern ihr geht es um Ideologie, Ressentiments und vor allem sich selbst. Dennoch hätte man ihr mit Argumenten und Fakten begegnen und sie inhaltlich wie empirisch widerlegen sollen.

An diese Episode erinnere ich mich immer mal wieder, wenn ich über die Diskussionen um Identitätspolitik und Cancel Culture nachdenke. Denn unsere damalige (erfolgreiche) Blockade war Cancel Culture im ganz praktischen Sinne.

Identitätspolitik beschreibt das Ansinnen, bestimmte gesellschaftliche Gruppen, die benachteiligt, diskriminiert oder gar ausgeschlossen sind, aufzuwerten und besserzustellen. Es geht explizit darum, denjenigen eine Stimme zu geben, die selten gehört werden. Lebenswirklichkeit, Interessen und Perspektiven von Migrantinnen und Migranten, nicht-heterosexuellen Menschen, aber auch der gesellschaftlich immer noch in Entscheidungspositionen unterrepräsentierten Frauen sollen stärker wahrnehmbar werden. All das ist im Grundsatz zu begrüßen.

Cancel Culture wiederum beschreibt, dass bestimmte Begriffe und Ansichten möglichst unterdrückt werden. Menschen sollen sich durch Äußerungen anderer nicht diskriminiert oder verletzt fühlen, also werden bestimmte Begriffe „gecancelt“. Wörter wie „Neger“, „Zigeuner“ oder andere sollen nicht verwendet werden, wer sie verwendet, unterliegt der Stigmatisierung. Auch das ist im Grundsatz zu begrüßen, denn Sprache soll dazu dienen, sich zu verstehen, auf Augenhöhe zu kommunizieren und einander als gleichwertig zu respektieren.

Der politische Zielkonflikt wird schon daran offensichtlich: Dem Wunsch nach Besserstellung schlechter gestellter Gruppen und nach Vermeidung von Verletzungen qua Sprache steht der Wunsch nach Meinungs- und Ausdrucksfreiheit entgegen.

Die New York Times und Wolfgang Thierse

Das Thema gewinnt derzeit kulturübergreifend an Aufmerksamkeit. In den USA kündigte die New York Times einem jahrzehntelang verdienten Reporter, der bei einer Studienreise nach Peru in verschiedenen politischen Diskussionen das N-Wort mehrfach verwendet hatte. Strittig ist, ob er dies zur Veranschaulichung, als Zitat oder als Teil des eigenen Sprachgebrauchs tat. Sowohl bei der Ney York Times als auch an US-amerikanischen Hochschulen gab es vielfach Fälle, da ein als verletzend empfundener Sprachgebrauch zur Beendigung von Berufsverhältnissen führte.

In Deutschland nahm diese Debatte aufgrund eines Gastbeitrages des ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse (SPD) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und eines anschließenden Interviews mit dem Deutschlandfunk an Fahrt aufgenommen. In dem Rundfunkgespräch sagte Thierse unter anderem: „Eine Gesellschaft kann nicht funktionieren, wenn die einzelnen Gruppen, wenn die Verschiedenen nur auf ihrer Verschiedenheit bestehen, auf ihrer Identität, dem Nebeneinander oder Gegeneinander von berechtigten Gruppeninteressen und Ansichten.“ Vielmehr müsse man sich „immer wieder neu der Mühe unterziehen, das Gemeinsame in unseren Vorstellungen von Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Menschenwürde zu finden, auch in dem, was geschichtlich geprägte kulturelle Normen, Erinnerungen, Traditionen sind.“ Nach Thierses Eindruck passiert das gegenwärtig viel seltener als es notwendig ist, viel schärfer würden die Identität und das Gegeneinander hervorgehoben „mit einer Radikalität und Engführung, die etwas Beängstigendes hat“.

Weiter äußerte Thierse: „Menschen werden vom Diskurs ausgeschlossen an den Universitäten oder in den Medien, die unliebsame Ansichten haben, die einem nicht passen, die man ablehnt, und deswegen will man sie ausschließen. Das sind die Beobachtungen, die mich beunruhigen“

Damit gewann der Streit um linke Identitätspolitik und Cancel Culture in Deutschland an Breite und Intensität. Interessant ist: Wolfgang Thierse forderte, Argumente statt Betroffenheit in den Mittelpunkt der gesellschaftlich-politischen Debatte zu stellen, erntete aber Betroffenheit („ich schäme mich“). In der Reaktion auf seinen Beitrag passierte genau das, was er angeprangert hatte.

Das Grundproblem: Cancel Culture und Reaktanz

Die Identitätspolitik, die marginalisierte Gruppen sicht- und hörbarer machen will, zielt im Kern auf mehr Gleichheit, und sie nimmt dafür eine temporäre Ungleichheit durch Bevorzugung bestimmter Gruppen in Kauf. Das ist angesichts der langanhaltenden historischen Benachteiligungen von Migrantinnen und Migranten, nichtheterosexuellen Menschen und Frauen erklärbar. Eben dies war auch die Begründung für affirmative action, die gezielte Vorteilsgewährung für diskriminierte soziale Gruppen in den USA. Doch bleibt das Problem, dass der linke Grundsatz der Gleichberechtigung für bestimmte Zeit verletzt wird – mit dem klar definierten Ziel, genau diese Gleichheit endlich herzustellen. Das erscheint moralisch und normativ legitimierbar.

Durch Cancel Culture werden einerseits bestimmte Wörter oder Thesen delegitimiert, da sie andere verletzen könnten. Tatsächlich sind vorsätzliche Verletzungen ethisch kaum zu tolerieren. Eine Person, die sich durch eine Äußerung verletzt sieht, könnte gemäß Cancel Culture erwirken, dass derartiges nicht geäußert werden darf. Das Kriterium der Verletztheit ist aber nicht objektiv, sondern per Definition subjektiv, was zur Folge hat, dass man von vornherein überlegen muss, was den oder die Gegenüber verletzen könnte. Genau dieser Mechanismus führt zu einer sprachlichen Selbstzensur. Die Psychologie nennt eine dadurch ausgelöste Abwehrreaktion „Reaktanz“: Menschen sträuben sich grundlegend gegen gefühlte und verordnete Einschränkungen und setzen sich dagegen zur Wehr.

Politisch wie demokratietheoretisch noch problematischer ist, dass durch Cancel Culture Menschen, die nicht von Diskriminierungserfahrungen betroffen sind, das Recht abgesprochen wird, an entsprechenden Diskursen teilzunehmen. Denn Cancel Culture fordert, dass man bestimmte Erfahrungen gemacht haben muss, um mitreden zu können. Dafür aber führt sie keine wirklich logische Begründung an. Einerseits sollen alle zur Kategorie Mensch gehören, aber Identitätspolitik muss, um überhaupt agieren zu können, erst einmal bestimmte andere Identitäten aktualisieren. Gewollt ist prinzipieller Egalitarismus, wofür aber zunächst identitäre Differenz festgestellt werden müsse. Das ist logisch widersprüchlich, genau wie die Zuschreibung diskursberechtigt / nicht diskursberechtigt innerhalb einer Kategorie (nämlich Mensch), die Gleichheit beanspruchen darf.

Demzufolge dürften Menschen nur noch über ihre eigenen Erfahrungen und ihre eigene Biografie sprechen, was zu sehr selbstreferenziellen Debatten führen würde. Das viel größere politische wie demokratietheoretische Problem ist, dass Menschen dadurch die prinzipielle Gleichwertigkeit abgesprochen wird. Denn gemäß Cancel Culture hätte die Stimme bestimmter Menschen keine Geltung mehr, was einen Bruch mit dem prinzipiellen demokratischen Gleichheitsversprechen bedeutete. Unklar ist vor allem, wann genau man warum die Berechtigung zu sprechen verliert.  Dieses Nicht-mehr-sprechen-dürfen aber erzeugt erst recht Reaktanz.

Frauen, LGBTIQ (lesbische, schwule, bi-, trans-, intersexuelle und queere Menschen), Migrantinnen und Migranten sind in Führungspositionen unterrepräsentiert, es gibt klare Lohn- und Vermögensunterschiede und ein Migrationshintergrund führt noch viel zu oft zu Deklassierung. Deshalb ist es richtig und begrüßenswert, dass in dieser immer noch patriarchal geprägten Gesellschaft Macht und Privilegien alter weißer Männer beschnitten werden. Das aber ist etwas ganz anderes, als sie zum Schweigen zu bringen, ihnen ihre grundlegende Diskurslegitimation abzusprechen.

Die gesamte linke Identitätspolitik inklusive Cancel Culture hat mit zwei unaufgelösten Widersprüchen zu kämpfen: Sie betrachtet sich selbst als emanzipatorisch und egalitär, behandelt Menschen aber aufgrund ihrer Geburt ungleich. Sie wendet sich gegen Diskriminierung, diskriminiert aber ebenfalls. Anders gesagt: Cancel Culture in ihrer aggressiven Form ist auch eine Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – mit handfesten politischen Konsequenzen.

Unfreiwilliges Konjunkturprogramm für Rechtspopulisten

Diese Konsequenzen laufen den Absichten linker Identitätspolitik diametral zuwider. Sie stärken nämlich direkt und nachweislich rechtspopulistische Parteien. Denn das Unbehagen, das Gefühl, Dinge nicht mehr sagen zu dürfen, spielt genau in deren politische Erzählung von der eingeschränkten Meinungsfreiheit. Donald Trump konnte seine Anhängerschaft unter anderem mit der Warnung davor mobilisieren, dass mit der politischen Linken die Cancel Culture komme. Auch die AfD mobilisiert mittels des Reaktanzempfindens, dass „man seine Meinung nicht mehr frei äußern kann“. So werden diejenigen gestärkt, die offen und ungebremst sagen, was linke Identitätspolitik mittels Cancel Culture eigentlich „canceln“ will. Kraft gestärkter parlamentarischer Vertretung sogar mit mehr medialer Präsenz und Reichweite. Beim Fußball würde man sagen: ein Eigentor.

Ein zweiter unbeabsichtigter Effekt: Es gibt auch rechte Identitätspolitik, sie spielt auf die Identität des und der Deutschen an. Rhetorisch ist es ein Leichtes, mit dem Verweis auf die Existenz linker Identitätspolitik mittels Analogieargument eine rechte Identitätspolitik zu legitimieren.

Ein weiterer Faktor kommt hinzu: Linke Identitätspolitik und Cancel Culture werten „alte weiße Männer“ ab, Rechtspopulisten werten sie dagegen auf und sprechen ihnen eine besondere Bedeutung zu – als politische Subjekte, Verteidiger nationaler Kultur. Da Menschen nach Selbstwerterhöhung streben, werden eben diese „alten weißen Männer“ geradezu in die Arme der Rechten getrieben, so dass progressive politische Mehrheiten unwahrscheinlicher werden.

Strategisch noch gravierender ist, dass sich das linke politische Lager in solchen Debatten selbst zerfleischt. Themen wie die Rechte von LGBTIQ, aber auch critical whiteness (das kritische Hinterfragen eigener Privilegien aufgrund des Weißseins) sind Konservativen meist gleichgültig, Rechtspopulisten dagegen treten vehement dagegen auf.

Cancel Culture sollte sich eigentlich gegen Rechtspopulisten richten, deren demagogische Sprache Menschen in der Tat verletzt, diskriminiert, ausgrenzt, ihnen die prinzipielle Gleichwertigkeit abspricht. Das Problem ist nur: Rechtspopulisten teilen Prinzipien wie Nichtdiskriminierung, Gleichwertigkeit und Anerkennung aller Menschen nicht, folglich prallt entsprechende Kritik an ihnen ab. Daraus ergibt sich, dass Cancel Culture nur diejenigen trifft, die sich selbst gegen Diskriminierung wenden und für die Gleichwertigkeit aller Menschen einstehen. Die finden sich in der Regel aber im progressiven politischen Lager. Das heißt: Verbale moralische Anklagen werden vorwiegend innerhalb dieses Lagers geäußert, das dadurch zerstritten, uneins und wenig attraktiv wirkt.

Das Diskriminierungsparadox: sprachlicher Klassismus

Klassismus bezeichnet die Herabsetzung oder Geringschätzung von Menschen mit kleinerem Geldbeutel oder geringerer formaler Bildung. Identitätspolitik und Cancel Culture wenden sich im Grundsatz gegen Diskriminierung, bringen aber eine hervor, nämlich Klassismus. Beispiele? Im Feminismus sollen verschiedene Unterdrückungsformen zusammengedacht werden – sprachlich firmiert das als intersektionaler Feminismus. Die eigene Privilegierung aufgrund der weißen Hautfarbe heißt critical whiteness. Die angemessene Repräsentanz von Personen jedweden Geschlechts oder sexueller Orientierung ist Ziel des Kampfes für die Rechte von LGBTIQ+. Menschen, die sich in subjektiver Übereinstimmung mit ihrem angeborenen Geschlecht empfinden, sind Cis-Menschen, sofern männlichen Geschlechts – Cis-Männer …  Schon die verwendete Sprache schließt Menschen aus. Denn nicht wenige Menschen wissen schlicht nicht, worum es geht und können daher nicht mitreden. Umso schlimmer, wenn sie von manchen Protagonisten linker Identitätspolitik als rückschrittlich oder hinterwäldlerisch abgewertet werden. Diskurse um linke Identitätspolitik und Cancel Culture sind mindestens implizit elitäre Diskurse. Linke Prinzipien wie Chancengleichheit und Teilhabegerechtigkeit werden teils ausdrücklich verletzt.

Im Kern geht es um Macht

Im Grunde geht es in der Diskussion um das Kernthema der Politik: um Macht. Äußerungen oder gar die Möglichkeiten zur Teilnahme am Diskurs sollen „gecancelt“ werden. Die Ausübung von Cancel Culture ist faktisch der Inbegriff von Macht. Aber worin besteht die demokratische Legitimation derer, die solche Diskursmacht ausüben? Weder sind sie gewählt worden noch gab es bisher bindende Referenden oder Abstimmungen zum Thema.

Eine gewisse strafbewehrte Cancel Culture gibt es seit Längerem. Beleidigungen, Volksverhetzung, Holocaustleugnung sind strafbar, und das mit Recht. Menschen werden dadurch verletzt, der gesellschaftliche Zusammenhalt wird gestört. Manche Ausprägungen von Cancel Culture aber reduzieren Personen nicht selten auf einen bestimmten Sprachgebrauch, statt sich auf die ganze Komplexität ihres Verhaltens oder ihrer Persönlichkeit einzulassen. Auch das ist eine Form der Machtausübung.

Bei aller Berechtigung des Grundanliegens linker Identitätspolitik und Cancel Culture – sie haben, wie beschrieben, mit erheblichen Widersprüchen zu kämpfen und bewirken sie teils das Gegenteil dessen, was sie anstreben. Eine alte Weisheit ist: Die Dosis macht das Gift. Denn selbstverständlich ein entschiedener Kampf gegen Rassismus, Sexismus und alle Arten gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und für eine menschenfreundliche Gesellschaft zu führen. Zum Arsenal dieses Kampfes gehören auch sprachliche Tabuisierungen und die bewusste Stärkung bisher marginalisierter Gruppen. Doch wenn es zu umfassenden Tabuisierungen und Abwertungen kommt, wächst die Gefahr der Reaktanz massiv. Beispielhaft dafür stehen Reaktionen auf Wolfgang Thierse, dem teilweise vorgeworfen wurde, eine „reaktionäre, faschistoide Dreckscheisse“ von sich gegeben zu haben.

Linke und linksliberale Politik sollte auf Grundsätze der Diskursethik bauen. Sie zielt auf gegenseitige Anerkennung aller Diskursteilnehmenden, auf eine verständigungsorientierte Diskussion und, im Optimalfall, den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“. In dieser Perspektive sind auch „alte weiße Männer“ Teilnehmer des Diskurses, selbst wenn sie bisweilen unbeabsichtigt Menschen verletzen, indem sie eine Sprache reproduzieren, die in ihrer Jugend normaler Umgangston war.

Man sollte sich am Leitbild der „robusten Zivilität“ orientieren, das Timothy Garton Ash 2016 in seinem Buch „Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt“ in die Diskussion einbrachte. Es bedeutet, dass man sich sprachlich allen Formen von Menschenfeindlichkeit entgegenstellt, aber in einer verständlichen Sprache, dass man sich auf Diskussionen und Dispute einlässt, auch wenn sie nicht im Wohlfühlbereich liegen. Das heißt nicht, dass man Rassismus und krudeste Verschwörungstheorien über sich ergehen lässt. Mit echten Nazis lohnt in der Tat kein politischer Diskurs, weil sie von völlig anderen Grundannahmen und Menschenbildern ausgehen. Aber Menschen auszuschließen und abzuwerten, weil sie bisweilen problematische Begriffe verwenden, ist mit robuster Zivilität unvereinbar.

Unser Autor Dr. Moritz Kirchner, Psychologe und Coach für Rhetorik, Organisation und Persönlichkeit, lebt und arbeitet in Potsdam.