24. Jahrgang | Nummer 8 | 12. April 2021

Macht Selensky den Saakaschwili?

von Bernhard Romeike

Im Sommer 2008 versuchte Micheil Saakaschwili, von 2004 bis 2013 Präsident Georgiens, die „Separatisten“ in Abchasien und Südossetien militärisch zu schlagen und diese Regionen erneut georgischer Kontrolle zu unterwerfen. Die hatte die Regierung in Tbilissi in den Wirren des Zerfalls der Sowjetunion verloren. Auf dem NATO-Gipfeltreffen in Bukarest (2.–4. April 2008) war die von US-Präsident George W. Bush präferierte Aufnahme Georgiens und der Ukraine in den „Aktionsplan für die Mitgliedschaft“ in der NATO (MAP) nicht beschlossen worden, insbesondere nach Intervention Bundeskanzlerin Angela Merkels und des damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy. Sie hielten die politischen Bedingungen dafür in beiden Staaten nicht für reif. Um der symbolischen NATO-Übereinstimmung Genüge zu tun, wurde jedoch festgelegt, dass beiden Staaten grundsätzlich die Perspektive einer NATO-Mitgliedschaft eingeräumt werden sollte.

Unter Saakaschwili wurde der georgische Militärhaushalt bis 2008 von 18 auf 900 Millionen US-Dollar erhöht. Die USA und andere NATO-Staaten unterstützten die Ausrüstung und Kriegsführungsfähigkeit der georgischen Streitkräfte; sie stellten – wie die Ukraine ebenfalls – auch ein Kontingent zur „Koalition der Willigen“, mit der die USA den Irak-Krieg führten. In der Nacht vom 7. zum 8. August 2008 ließ Saakaschwili die Zivilbevölkerung in der Hauptstadt und anderen Orten Südossetiens ohne Vorwarnung mit Mörsern, Raketen und anderen schweren Waffen beschießen. Die Folge war der Einsatz russischer Truppen, die Südossetien verteidigten und bis in die georgischen Kernlande vordrangen. Die Luftstreitkräfte der USA flogen über eine Art Luftbrücke 2000 georgische Soldaten aus Irak nach Georgien. Am Ende konnten jedoch weder sie noch die NATO militärisch etwas ausrichten. Es blieb ein „eingefrorener Konflikt“, bei dem Südossetien (Nordossetien ist ohnehin föderaler Teil Russlands) und Abchasien von Georgien nicht kontrolliert werden können und praktisch von Russland unterstützt werden.

Saakaschwilis Partei wurde 2012 abgewählt, gegen ihn wurde Haftbefehl wegen Amtsmissbrauchs erlassen. Aus Sicht der Opposition ist er verantwortlich dafür, dass hinsichtlich der „Separatisten“-Gebiete eine Lösung in weite Ferne rückte. Saakaschwili flüchtete zunächst in die USA, spielte 2015/16 nochmals eine gewisse Rolle als Berater des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko sowie als Gouverneur des ukrainischen Gebietes Odessa. Heute lebt er in den Niederlanden.

Der französische Außenminister redete bereits von „Sanktionen“ gegen Russland, um den Druck zu erhöhen. Der damalige Präsident Estlands, Toomas H. Ilves, war einer der stärksten Befürworter einer Saakaschwili-Solidarität: „Eine strategische Partnerschaft ist möglich mit Ländern, die unsere Werte teilen.“ Russland schloss er dabei ausdrücklich aus. Michail Gorbatschow dagegen schrieb im März 2008 einen Brief an seine „Freunde, die deutschen Journalisten“. Darin kritisierte er, welch ein Russland-Bild in den deutschen Medien vermittelt wird: „Beim aufmerksamen Blick auf die Flut von Veröffentlichungen in Deutschland wird man jedoch schwer den Eindruck wieder los, als ob man es mit einer gezielten Kampagne zu tun hat, als ob alle aus einer einzigen Quelle schöpften, die eine Handvoll Thesen enthält (in Russland gebe es keine Demokratie; die Meinungsfreiheit werde unterdrückt; eine arglistige Energiepolitik werde durchgesetzt; die Machthaber drifteten immer weiter in Richtung Diktatur ab – und so weiter und so fort). Diese Thesen werden in verschiedenen Tonarten wiederholt. Die Zeitungsmacher scheinen auch keinerlei Interessen jenseits dieser Aussagen zu haben.“ Das kommt heute sehr bekannt vor.

Jetzt will Wolodymyr Selensky, seit Mai 2019 Präsident der Ukraine, den Eindruck harten Handelns erwecken. Seit Mitte Februar 2021 haben sich an der Demarkationslinie in der Ostukraine die Kämpfe zwischen ukrainischen Regierungstruppen und pro-russischen Einheiten wieder verstärkt. Das korreliert augenscheinlich mit der Amtsübernahme des USA-Präsidenten Joe Biden, der schon unter Barack Obama als faktischer Sonderbeauftragter für die ukrainischen Angelegenheiten agierte. Obwohl die Krim 2014 nach dem Putsch auf dem Kiewer Maidan wieder russisch wurde und die „Separatisten“-Gebiete in der Ostukraine in einem unklaren politischen Zwischenzustand verharren, hatte Donald Trump es vermieden, der Ukraine offensivfähige Kriegswaffen zu liefern. Es wird erwartet, dass sich das mit Biden ändert.

Selensky will nun offensiv erscheinen. Ein Beschluss des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine vom 11. März 2021 trägt den Titel: „Zur Strategie der Entsetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“. Mit einem Dekret vom 24. März kündigte Selensky Maßnahmen an, um „die vorübergehende Besetzung“ der Krim und des Donbass zu beenden. Präsident Biden sicherte ihm in einem Telefongespräch Anfang April die „unerschütterliche Unterstützung der Vereinigten Staaten für die Souveränität und Integrität der Ukraine angesichts der andauernden russischen Aggression im Donezbecken und auf der Krim“ zu. Was hat das praktisch zu bedeuten, außer bereits avisierten gemeinsamen Militärmanövern? Da die ukrainischen Truppen kaum direkt gegen die russischen Truppen aufmarschieren können, forderte Selensky am 6. April, die Allianz solle nun die Zusage von 2008 einlösen und den Beitritt seines Landes zur NATO vorantreiben: „Die NATO ist der einzige Weg, um den Krieg im Donbass zu beenden.“

Russland hatte auf die ukrainischen militärischen Militäraktivitäten mit eigenen Truppenbewegungen reagiert. Der Westen machte wieder – wie 2008 im Falle Georgiens – einseitig Moskau für die Zuspitzung der Lage verantwortlich. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte sich „besorgt über Russlands Militäraktivitäten in und um die Ukraine“ und „anhaltende Verletzungen des Waffenstillstands“. Militärische Unterstützung stellte er allerdings nicht in Aussicht.

Aus Polen hieß es, recht realistisch: „Kiew tut viel, um den Eindruck zu erwecken, dass es die Amerikaner auf seiner Seite hat und dass die NATO im Moment des Angriffs nicht untätig sein wird. Es scheint jedoch offensichtlich, dass in den europäischen Hauptstädten und in Washington kein Appetit auf einen Krieg mit Russland zur Verteidigung der Ukraine besteht, die kein NATO-Mitglied ist und ein bilaterales Bündnis weder mit den USA noch mit einer europäischen Macht hat.“ Westliche Militärbeobachter betonen, dass der russische militärische Aufmarsch „auf den ersten Blick beeindruckend, aber für eine groß angelegte Offensive“ zu klein sei. Der Kreml wolle lediglich seine Muskeln spielen lassen, „um die Friedensverhandlungen wieder zu beleben und das Engagement der neuen US-Regierung gegenüber Kiew zu testen“.

Umgekehrt meinte die russische Iswestija, Kiew wolle „nur angeben“. Nach 2015 hätten „nicht die Friedensvereinbarungen oder nationaler Pazifismus die Ukraine davon abgehalten, die Frage der ,Teile der Gebiete von Donezk und Luhansk‘ militärisch zu lösen, sondern die Erkenntnis, dass ein Sieg zu einem vertretbaren Preis nicht erreichbar ist“. Ungeachtet aller demonstrativen Manöver sei nicht damit zu rechnen, dass Kiew „seine Truppen im Frühjahr wirklich vorrücken lässt“. Sie seien „nur Elemente eines großen politischen Spiels – im Vorfeld der Verhandlungen der ,Normandie-Vier‘ auf hochrangiger Ebene.“

Es bleibt zu hoffen, dass diese Einschätzungen zutreffen. Ein Spiel des Westens und seines Protegés in Kiew mit dem Feuer ist es gleichwohl. Und die außenpolitisch Verantwortlichen in Deutschland kokeln mit.