24. Jahrgang | Nummer 7 | 29. März 2021

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: Gucken was los ist – Wolfgang Kohlhaase 90 / Schlachtruf: Nicht unterkriegen lassen – Theater im Palais 30 / Gift für die neuen Jakobiner – Baudelaire 200

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„Ich wollte immer meine Kindheit verstehen und das Leben meiner Eltern. Und: Ich wollte vor die Haustür treten und gucken: Was ist denn so los?“ – So sprach neulich im Fernsehen Drehbuchschreiber Wolfgang Kohlhaase. Kürzlich zu seinem neunzigsten Geburtstag. Er lümmelte lässig im märkischen Landhaus-Idyll und schaute raus ins Frühlingsgrüne.

Neugier aufs Vergangene und aufs Gegenwärtige als Impuls fürs Schreiben oder zugleich, wie in diesem Fall, fürs Filmemachen. Denn Kohlhaase gilt als einer der bedeutendsten, wortmächtigsten Drehbuchschreiber Deutschlands; für sehr viele gar als der bedeutendste.

Picken wir uns aus dem Dutzend Kohlhaase-Filmen zwei heraus. „Ich war neunzehn“ erzählt von einem jungen Leutnant der Roten Armee 1945 in Deutschland (Jaecki Schwarz). Teils ist es die Nacherzählung der Tagebücher des Regisseurs Konrad Wolf, der als Kind kommunistischer Moskau-Emigranten, nun in Sowjetuniform, das Kriegende bei Berlin erlebt. Ein Film von 1968, der mit seinem für damalige Verhältnisse überraschend genauen, souverän von Verklärungen durch DDR-Propaganda befreiten Blick aufs Vergangene, eine erschütternde, eine ins Universelle greifende Wahrhaftigkeit entfaltet. Denn Denken sei wie Licht, sagt Kohlhaase. „Es geht, wie Wahrheitssuche, in jede Richtung.“ Letztlich eine immer wieder vergessene Selbstverständlichkeit.

Ein Jahrzehnt später, wieder mit Wolf als DEFA-Regisseur, die ganz gegenwärtige Emanzipationsgeschichte „Solo Sunny“ mit Renate Krößner. Eine Berliner Göre, unbegabt für Kompromisse, will raus aus dem Hinterhof und weg vom Fließband-Alltag in der Fabrik. Will Sängerin werden, doch nicht stecken bleiben im verlogenen Tingeltangel-Milieu. Und sie will die große Liebe.

Und sonderlich in diesem, im tragikomischen Sujet überhaupt, gelingen Kohlhaase hinreißend lakonische Dialoge von geradezu Sprichwort ähnlicher Sprachkraft (sein Markenzeichen). – „Nicht mehr ganz jung und immer noch Nachwuchs.“ Oder: „Lieber unterm Auto als unterm Schofför.“ Oder, so Sunny morgens nach dem Sex zum Kerl: „Is ohne Frühstück. – Is auch ohne Diskussion.“ Lapidar Hingeworfenes. Unvergesslich. Sätze für die Filmgeschichte.

Frisch im Handel: DVD-Box mit zwölf Kohlhaase-Filmen; das Kohlhaase-Buch über Filme und Freunde mit dem sinnigen Titel „Um die Ecke in die Welt“.

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Damals war’s, im neuen Berlin: Eine Schauspielerin, drei Schauspieler, eine Regisseurin, eine Dramaturgin, zwei Techniker und ein Intendant, derzeit ohne festes Engagement, also arbeitslos, schnappten sich anno 1990 einen ungenutzten Salon im Parterre eines hübschen historischen Palastes inmitten der Stadt und nutzten ihn.

Faktisch war es eine Haus-Besetzung. Einfach, um dort Theater zu machen. Ziemlich anarchisch, eigentlich. Freilich mit populärem, allerdings nicht einfältigem Konzept; Berlinisch eingefärbt. Die Truppe, alles gestandene Profis, wollten sich nicht unbedingt neu ausprobieren, sie wollten als im DDR-Hauptstadttheater bewährte Könner wieder vor die Leute. Wollten Zukunft, Beifall, Akzeptanz und, natürlich, ein zumindest hinnehmbares Geld. Motto: Mut, Talent und Chance.

Mithin eröffnete ein paar Monate später im Frühling in zentraler Lage hinterm Kastanienwäldchen gegenüber Staatsoper, Humboldt-Uni und Zeughaus im prachtvoll klassizistischen Palais Donner (Johann Gottfried D., königlicher Kammerherr) eine kleine feine Bühne. Schlicht aber sinnfällig getauft auf den Namen Theater im Palais. Das war am 22. März 1991. Es gab den hintersinnigen englischen Komödien-Hit „Shirley Valentine oder Die Heilige Johanna der Einbauküche“ von Willy Russels. Tags darauf Premiere Nr. 2: Die Politsatire „Farm der Tiere“ von George Orwell. – Tolles Doppel: Shirleys Hausfrauenpower gegen Verordnetes, dann die grimmige Mär einer manipulierten Welt. „Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher.“

Und wie weiter? Gabriele Streichhahn, Intendantin und Schauspielerin: „Also Location gekapert, nach zwei Jahren Mietvertrag, nach sieben Jahren erste Fördermittel, nach 13 Jahren Insolvenz und am Boden. Wiederauferstanden dank Hilfen von Senat, Bezirk, Förderverein.“

Zünftige Achterbahn-Theatergeschichte. Rauf, Runter und zuletzt aufs Neue wieder rauf. Schlachtruf: Nicht unterkriegen lassen. „Alle arbeiteten über berufliche und fachliche Grenzen hinweg. Im basisdemokratischen Entscheidungsmodus. Bis sich herausstellte, das kann hemmend sein. Wir bildeten Strukturen.“

In den ersten Jahren entstehen mit drei Darstellern, einem Musiker und einer Regisseurin pro Spielzeit bis zu fünf teils große Inszenierungen sowie literarisch-musikalische Abende. Mit der Zeit kamen Gäste zum Kern-Ensemble, und das Repertoire wurde immer breiter gefächert mit Autoren wie Shakespeare, Hauptmann, Molière, Fontane, Eric-Emmanuel Schmitt, Walter Benjamin oder Peter Hacks; sehr oft in eigens angefertigten Textfassungen für dieses intime, elegante Theaterchen mit seinen 99 Plätzen. Die Bilanz zum Jubiläum: 158 Premieren, 400.000 Zuschauer. Seit ein paar Jahren gibt es eine junge Gruppe, Amateure, die mit eigenen Sachen Akzente setzen.

„Um zu Geld zu kommen“, so die Intendantin, „wird auf jedem Fest, in jedem Ort oder in jedem Hotel bis runter nach Bayern gespielt und gesungen. Wir akzeptieren jede seriöse Anfrage, sind eine eingeschworene Truppe, leisten viel, pochen auf Qualität. Selbstausbeutung pur und pures Vergnügen – hinterher.“ Hängen doch alle bis heute treu an ihrem Hausgeist und seiner heimlichen Dauer-Durchsage: Mit ernsten Sachen lustvoll spielen. Applaus, Applaus!

Im Netz steht ein entzückendes Filmchen zum Fest mit viel Musike, Charme und neugierigen Blicken in alle Winkel des Theaters mit den Protagonisten Gabriele Streichhahn, Pianistin Ute Falkenau, Jens Uwe Bogadke und Carl Martin Spengler sowie allen Mitarbeitern hinter den Kulissen. Abrufbar über die Homepage www.theater-im-palais.de.

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Sein Gedichtband „Die Blumen des Bösen“ sagt eigentlich schon alles und wurde prompt, wir schreiben das Jahr 1857, verboten. Da war Charles Baudelaire Mitte dreißig, wurzellos, depressiv und längst berüchtigt als dekadenter Sauhund und drogensüchtiger Radikalinski. Aber zugleich, in einschlägig prominenten und klarsichtigen Kreisen der Pariser Bohème, berühmt als avantgardistischer Modernist, der mit poetischer Wucht und Raffinesse den Rausch, den Ekel, den Dreck und das Grauen feierte. Und die Lüge bloßstellte.

Hemmungslose Lebensgier, schmerzlichster Lebenskampf und -krampf trieben diesen Wurzellosen um. Und seine Höhenflüge an. – Er bezahlte mit Syphilis, Schlaganfall, Siechtum und frühem Tod.

Die bittersüßen Nachtseiten des Lebens, die unergründlichen Abgründe des Daseins, das verführerisch Schöne wie Hässliche des Menschlichen waren der Generalbass einer faszinierenden Dichtkunst. „Jedem Trank und jeder Speise“ vermochte er „Purpurnektar und Ambrosia“ abgewinnen.

Doch der Verbitterte, Geschundene und Gefeierte war kein Verkünder einer „falschen“ Moral. Baudelaire schoss vielmehr mit unbändigem Hohn und unerschöpflicher Fantasie gegen die Fassaden einer wohlfeil gutbürgerlichen Moral. „Du heuchlerischer Leser, du mein Bruder, mir so gleichend!“

Charles Baudelaires Ruhm strahlt stark bis heute, da wir am 9. April seines 200. Geburtstages gedenken.

Freilich, ein Jahrhundertkünstler wie er mit derart schockierender Bedenkenlosigkeit in jeder Hinsicht würde auch heutzutage seine „bösen“ Lieder singen. Shit-Stürme der Tugendhaften, der massenhaft „heuchlerischen Leser“, dürften um ihn toben. Die neue jakobinische Wachsamkeit; wir schreiben das Jahr 2021. Allüberall Moralpolizisten und Innen.