24. Jahrgang | Nummer 6 | 15. März 2021

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: Mahler, Wagner, Hühnersuppe – Barrie Kosky in Ekstase, Jugendstil trifft Platte – Friedrichstadt-Palast unter Denkmalschutz.

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Den kleinen Barrie darf man sich getrost als verspielten, verträumten, frechen Kobold vorstellen. Ein helles Kerlchen, das alle Welt bezaubert. Und sich selbst mit. Ja, der Bursche mit gleich einem ganzen Geäst von Antennen für alles Verführerische und Besondere, für alles Schöne aber auch Schmerzliche, der lässt sich gern sich hinreißen und verzaubern. Stürzt gern ins Entrückte, Verzückte. Ins Außersichsein.

Sehr viel später sagt der große Barrie – noch heute mit einem Kobold in sich – ganz nüchtern: „Ich war ein Junge mit blühender Fantasie und hypersensiblem Wahrnehmungsvermögen.“ So steht es in „On Ecstasy“, Barrie Koskys Erinnerungen an frühe Sinnlichkeiten, an erste Erschütterungen durch Kunst, an seine „éducation sentimentale“ sowie sein erstaunlich umstandsloses Aufwärts ins Künstlertum, erschienen 2008 in Australien (da war der Mann aus Melbourne vierzig) und jetzt, 2021, in Berlin auf Deutsch.

Hundert Seiten im praktischen Vokabelheft-Format. Ein kluges Büchlein, charmant amüsant, witzig, herzig, aber auch voll ernster Weisheiten etwa vom Verschmelzen von Trallala und Tragik bei Mahler oder Bernstein. Und vor allem: Voller berührender Bekenntnisse zur Kunst- und Lebensleidenschaft, zur Musik, zur Oper, zum Drama der Küsse und Bisse und zum Theater – diesem „idealen Ort für die Manifestation des Ekstatischen“; dieser „von Natur her alchemistischen Mischung aus Manipulation, Ritual und Stimulation, Körper, Stimme, Licht, Klang“.

Ekstase also, Hingabe. Schon als Knabe Kosky aus dem Plattenschrank der Eltern Mahler-Sinfonien hervorkramte: „Das Kinderzimmer wurde zum Urknall; das Universum drehte sich in mir“. Oder die LP mit der „unerhörten, unheimlichen“ Stimme von Renata Tebaldi: „Ich war versteinert, mir wurde schwindelig“. Oder, ganz anders: Die Hühnersuppe der polnischen Großmutter – „der Caravaggio, der Rainer Maria Rilke, der Michelangelo aller Suppen.“ „Mein erster Löffel metaphysische Verzückung, dann kosmische Glückseligkeit, katapultierend an den Anfang und das Ende aller Zeiten.“ – Ekstase auch verbal.

„On Ecstasy“ – der Regiestar sagt, das würde er jetzt, mit Mitte 50, nicht mehr schreiben. Doch wenn schon schreiben, dann über Lachen oder über Melancholie. Ekstase sei nicht mehr sooo wichtig, Wahrnehmungen veränderten sich. Wie beim Sex, der sei auch anders als mit 15. Außerdem: Ein Intendant sollte nicht nach Ekstase suchen; ein Regisseur aber schon. Doch davon die Regiearbeit bestimmen lassen, das wiederum nicht. Da sei „große Objektivität der einzig richtige Weg“.

Meister Kosky kommt auf Richard Wagner, „den Meister theatralischer Phantasmagorien“, auf seine Bayreuther „Meistersinger“-Inszenierung. Im Festspielhaus habe er ständig einen Dämon Wagners auf seiner Schulter gespürt. Und der habe immerzu geflüstert „Dreckiger Jude! Dreckiger Jude!“. – Trotzdem: „Ich vergebe Wagner alles, wenn ich ‚Tristan‘ höre. Dieses erotische Verweben von Begehren, Verklärung, Dunkelheit und Tod. Eine lichtdurchwobene Nachtmusik.“

„On Ecstasy“ beschließt ein aktuelles Gespräch mit dem Wissenschaftler Ulrich Lenz. Der fragt nach neuen Ekstase-Momenten. Kosky nennt die „extrovertierte Ekstase“ („Ekstase durch Komik“) bei seinen Operetten-Wiederentdeckungen an der Komischen Oper, dann die „introvertierte Ekstase“ bei Inszenierungen von Rameau, Händel, Prokofjew oder Bartok – wobei sich nebenbei Koskys sagenhafter Wirkungsweg stichwortartig markiert: Von Australien über Wien nach Berlin – seit Jahren weltberühmter Chef der Komischen Oper und gefeierter Liebling der Berliner – und weiter quer durch Deutschland und Europa dazu. Und an die Spitzen der Opern-Welt.

Das Sagenhafteste – Kosky in Begeisterung! – seien freilich seine „so geliebten, so besonderen Sängerdarsteller“. Ohne die keine „Qual, Freude, Leidenschaft“. Eben „kein ekstatischer Kitzel“.

Barrie Kosky: On Ecstasy, Übersetzung aus dem Englischen von Ulrich Lenz, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2021, 100 Seiten, 15,00 Euro.

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Endlich hat es sich auch in den höchsten Instanzen der Berliner Senatsverwaltung durchgesetzt: die Denkmalwürdigkeit der DDR-Architekturmoderne, mithin ihre Unterschutzstellung. Wie oft hat man schon aus ideologischen oder pekuniären Gründen die Abrissbirnen in Gang gesetzt. In den 1990er Jahren hätte es beinahe auch den Berliner Friedrichstadt-Palast getroffen, über den ach so gern hochnäsig gelästert wurde – asiatischer Großbahnhof, kitschige Fassadengestaltung. Die Zeiten haben sich geändert inzwischen und der im April 1984 von Honecker eingeweihte „letzte Repräsentationsbau vor der politischen Wende“ wird gefeiert als „Höhe- und Endpunkt der Epoche der DDR-Paläste“, so Landeskonservator Christoph Rauhut.

Das Gebäude zeige „das hohe Können der Plattenproduktion, die Sichtbetonplatten an der Fassade wirkten dank des Zusatzes von Travertin wie Werkstein, die Betonglaselemente – Anklänge an Jugendstil und Art déco – sind Blickfang, Lichtreklame und Innenraumbeleuchtung zugleich“.

Der Entwurf, der Platte und Jugendstilformen, das Standardisierte und Dekorative ingeniös zusammenbringt, stammt von Manfred Presse und Jürgen Ledderboge, für die das Ornament offensichtlich kein Verbrechen war und deren Erfindungen das effektvoll Schöne wie lustvoll Animierende feiern; man denke nur ans Foyer mit Prunktreppe, Balustraden, Buffets fürs allzeit beliebte Sehen und Gesehen werden.

Die Ausführung des schwungvoll festlichen, repräsentativen, zugleich intimen Baus geschah von 1981 bis 1984 in nur 39 Monaten unter Leitung von Erhardt Gißke, dem Generaldirektor der Baudirektion Mitte beim Ministerium für Bauwesen. Der Vorgängerbau nebenan um die Ecke am Brecht-Platz wurde aufgrund statischer Probleme 1980 abrupt geschlossen und später abgerissen.

Dieses verschwundene Monumentalgebäude war ursprünglich Markthalle und wurde alsbald zum Zirkus umgebaut. Regisseur Max Reinhardt inszenierte hier 1911 die Uraufführung von Hofmannsthals „Jedermann“. Anno 1917 kam das Gebäude in seinen Besitz und wurde von Stararchitekt Hans Poelzig 1918/19 umgestaltet zum Großen Schauspielhaus, zum „republikanischen Theater der Massen“. Reinhardt eröffnete es am 29. November 1919 mit der „Orestie“. Mitte der 1920er Jahre verpachtete er – finanziell klamm – das Haus mit 3000 Plätzen an Revuemeister Erik Charell (1894–1974). Der glänzte innovativ, endete aber im finanziellen Desaster. Das Großunternehmen ging an Reinhardts Hauptgläubiger, den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund. Nach der Gleichschaltung der Gewerkschaften durch das NS-Regime kam das Haus an die Organisation Deutsche Arbeitsfront. Nach 1945 etablierte hier die SED das hoch subventionierte „Weltstadt-Varieté“ namens Friedrichstadt-Palast. Anfang der 1980er Jahre fehlte das Geld, den kulturgeschichtlich hochbedeutenden, aber einsturzgefährdeten Poelzig-Bau gegenüber vom Berliner Ensemble durch eine Generalsanierung zu retten.

Es kam zum Neubau ums Eck, Friedrichstraße 107, dessen optisch-technische Opulenz, nüchtern betrachtet, die monetäre Leistungsfähigkeit der DDR überforderte. Trotzdem: Die SED zeigte keine Schwäche, schon gar nicht in der Hauptstadt, klotzte fürs Entertainment und kassierte die Begeisterung der Bevölkerung sowie der internationalen Fachwelt. Und hatte einen letzten Trumpf.

Aktueller Hinweis: Die Palast-Intendanz teilte soeben mit, die allein in kommerzieller Hinsicht bis zu ihrem Corona-Abbruch am 10. März 2020 erfolgreichste Show-Produktion VIVID werde wegen pandemischer Unsicherheiten nicht wie geplant von April bis Juni 2021 weitergespielt (VIVID siehe Blättchen 01/2019). Bei absehbar verringerter Platzkapazität rechne sich der enorme Aufwand (allein 100 Mitwirkende!) nicht. Ab August 2021 werde es eine neue Grand Show der Superlative geben. Mehr dazu wurde nicht verraten.