Die deutschen Zustände kann man indirekt auch daran ablesen, welche Lehnwörter im Englischen auftauchen. Früher waren das „Kindergarten“, „Rucksack“ und „Leitmotiv“, dann „Realpolitik“, „Reich“ und „Blitzkrieg“, jüngst „German Angst“ und nun „German Impfdesaster“.
Anfang März wurde im Spiegel über die Lage geschimpft. Ich zitiere mal etwas ausführlicher: „Ist das wirklich Deutschland? Erst zu wenig Masken, dann zu wenig Impfstoff, jetzt Verspätung bei den Schnell- und Selbsttests? Organisieren, klug wirtschaften, das galt doch immer als Stärke der Deutschen. Und nun klappt fast nichts reibungslos, ausgerechnet in der Pandemie, beim Kampf um Leben und Tod. Was ist da los? Corona stellt jede Regierung der Welt vor neue, extrem schwierige Aufgaben. Da kann nicht alles gelingen. Allerdings gelingt der Bundesregierung in dieser Phase viel zu wenig, wie sich an der Impfstatistik ablesen lässt. Israel, die USA, Großbritannien und andere sind weit vorausgeeilt. Deutschland, das muss man leider sagen, wird derzeit grottenschlecht regiert, von der Bundeskanzlerin, von der Runde der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten, von einigen Ministern, namentlich von Gesundheitsminister Jens Spahn.“
Das müsse Konsequenzen haben. Die Hauptverantwortung trage die Bundeskanzlerin. „Nachlässiger als Trump in einer überlebenswichtigen Frage? Merkels Gesamtbilanz als Kanzlerin ist verdorben.“ Jens Spahn stehe noch schlechter da. Er zeigte sich der Lage persönlich nicht gewachsen und „ließ sich von der Frage ablenken, ob er doch noch CDU-Vorsitzender werden könne“. Nun wären „eigentlich […] zwei Rücktritte fällig“. Nur würde das Deutschland im Falle Merkels „in eine politische Krise mitten in der Pandemie führen“ und wegen der nahenden Bundestagswahl gäbe es dann wohl „bis zum Ende des Jahres keine stabile Regierung“. Für den Gesundheitsminister gelte dieser pragmatische Einwand jedoch nicht.
Bisher waren Konsequenzen nicht zu sehen. Alle Beteiligten wurschteln weiter, als sei nichts geschehen. Die Stimmung im Lande wird depressiver. Ostern naht, das Fest des Lichts. Aber es gibt kein „Licht am Ende des Tunnels“, nur viel Tunnel hinter dem Licht, das man sich selber anmacht. Bisher hatte die deutsche Bevölkerung mehrheitlich meist den Eindruck, dass sie von den Christdemokraten wenigstens ordentlich regiert wird. Das scheint vorbei. An anderer Stelle resümierte das Hamburger Blatt: „Deutschland wirkt, nach Jahrzehnten des Wohlstands, nach Jahren mangelnder Selbstkritik, an vielen Stellen verfettet, verfilzt und überbürokratisch, sodass nun Funktionsstörungen eintreten.“
Das scheint allerdings kein deutsches Problem. Der Schweizer Historiker Caspar Hirschi wies auf zwei Grundprobleme der heutigen westlichen Gesellschaften hin. Eine Pandemie sei eigentlich früher ein „normales“ Problem gewesen, Cholera war Teil der Realität. Die Spanische Grippe von hundert Jahren war viel verheerender als Corona heute. Aber die jetzige Generation hat so etwas noch nie erlebt. Zugleich erscheinen das Zusammentreffen von Finanzkrise, Schuldenkrise und Klimakrise mit der Corona-Pandemie als Ausdruck dessen, dass „die Welt gerade aus den Fugen“ gerate. Im Hintergrund stehe ein „falsches Verständnis von Normalität“. „Der Standard dafür sei jüngst zu hoch angesetzt worden.“ (NZZ, 22.03.2021)
Anders gesagt, die westliche Welt des 21. Jahrhundert, nachdem sie die Sowjetunion bezwungen, die Finanzkrise bewältigt, ferner Aids und Ebola besiegt hatte, meinte, kein Großproblem würde mehr entstehen, das sie nicht beherrschen könne. Das Ergebnis sei, so weiter Hirschi, Orientierungslosigkeit. „Es fehlt eine leitende Idee. Die Gesellschaft weiß nicht, wohin sie will.“ Das wurde verstärkt durch die Ambitionen von Experten, von Wissenschaftlern, die ihre Rolle als Berater der Politik aufgaben und sich an die Stelle der Politiker als Entscheidungsträger zu setzen bemühten. So erschienen alle Maßnahmen, von der Internierung der Bevölkerung bis zur Heimbeschulung der Kinder als Sachzwänge, die jenseits der Politik zu exekutieren waren.
Für Deutschland kam ein weiteres Problem hinzu. Der Verweis auf die hohen Impfquoten in Israel, Großbritannien und schließlich den USA ist ja nicht von der Hand zu weisen. Dabei fällt der Blick auf die EU, der die Beschaffung und Verteilung der Impfstoffe überantwortet war. Manfred Weber von der CSU, Vorsitzender EVP-Fraktion im EU-Parlament, sagte: „Wir befinden uns in der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg und denken und handeln manchmal, als wären wir im Normalzustand. Die Amerikaner haben den Defense Production Act aktiviert, der die Produktion in Kriegszeiten sichern soll. Die Amerikaner machen Kriegsrecht, wir machen Verwaltungsrecht.“ Die Europäische Union, wie sie realexistierend ist, scheint für solche Krisenbewältigung nicht gemacht. Das trifft des Pudels Kern aber nur zum Teil. Angela Merkel hatte Ursula von der Leyen an die Spitze der EU-Kommission rangiert, um die hegemoniale Position Deutschlands von Brüssel aus zu untermauern. Diese hatte jedoch bereits in ihrer früheren Verwendung als Militärministerin auf einem Feld völlig versagt. Das war die Beschaffung. Die Hubschrauber flogen nicht mehr, die Panzer fuhren nicht, U-Boote durften nicht mehr tauchen und am Ende schossen selbst die Maschinenpistolen nicht mehr, wenn die Umgebungstemperatur anstieg. Nun war Frau von der Leyen mit der Kommission für die Beschaffung des Impfstoffs für die gesamte EU verantwortlich. Und es geschah dasselbe, nicht mit den MPis, aber mit den Impfstoffen.
Die USA hatten bereits im Mai 2020, noch unter Präsident Trump, die „Operation Warp Speed“ in Gang gesetzt. Der Begriff „Warp“ stammt aus der Star-Trek-Serie und ist der Name für den Raumschiff-Antrieb mit Überlichtgeschwindigkeit. Bei Trump war das die Entscheidung, die Initiative für die Entwicklung von Impfstoffen gegen Corona zu ergreifen und dafür eine Partnerschaft zwischen dem Gesundheitsministerium, dem Verteidigungsministerium und der Pharmaindustrie unter einer zentralen Führung zu installieren. Der Staat setzte dafür viel Geld ein, verschlankte Zulassungsverfahren und konnte auf Grundlage eines Gesetzes über die Kriegswirtschaft Maschinenbauer und Bauunternehmen verpflichten, bestimmte Maßnahmen für die Impfstoff-Produktion vorrangig umzusetzen. Wenn der Transport schwierig war, flog die Air Force die Bauteile. Nach der reinen Lehre des Marktliberalismus durfte das alles nicht sein. Die USA haben den Neoliberalismus erfunden, aber nie tatsächlich umgesetzt. Die Deutschen haben ihn übernommen und umgesetzt, und viele stehen jetzt mit staunend offenem Maul vor der Tatsache, dass „der Markt“ nicht alles richtet.
Das Ganze hat noch eine andere Dimension. Man könnte zynisch sagen: die Staaten, die den 2. Weltkrieg gewonnen haben, Russland, Großbritannien und nach schwierigen Anläufen auch die USA (und deren gemeinsame Siedlungskolonie Israel) meistern – in der Welt des Nordens, da ist von Asien noch nicht geredet – auch die Corona-Pandemie offenbar am besten, während die früher faschistischen Staaten Deutschland, Italien, Österreich, auch Spanien bisher scheitern. Das gäbe weitere interessante Analogien für feuilletonistische Betrachtungen. Ich bekenne jedoch: Die Idee ist bei Emmanuel Todd entlehnt, der sie vor zwanzig Jahren anhand der demographischen Entwicklungen in Europa seit 1945 entwickelt hatte.
Schlagwörter: Angela Merkel, Deutschland, Erhard Crome, Krisenbewältigung, Neoliberalismus