Das laute Geschrei um „strukturellen Rassismus“ und „politische Korrektheit“, das bereits seit Jahren Geistes- und Sozialwissenschaften deformiert, hat nun auch die Mathematik erreicht. Ausgangspunkt der jüngsten Konvulsionen in den USA war ein Tweet einer Studentin der Rutgers Universität in New Jersey aus dem Jahre 2020, die da schrieb: „Die Idee von 2+2=4 hat kulturelle Gründe. Als Folge von westlichem Imperialismus/Kolonisierung halten wir sie für das einzig Richtige.“ Die Frau heißt Brittany Marshall und ist laut Profil Lehrerin, Kämpferin für sozialen Wandel und Verfechterin von „Black Lives Matter“. Dass nichtweiße Schüler in Mathematik benachteiligt würden, resultiere daher, dass das Fach Ausdruck „weißer Vorherrschaft“ (White Supremacy) sei. Der Tweet schlug – wie meist bei solchen Themen – Wellen und führte zu Debatten in den USA über „Rassismus“ in der Mathematik.
Konservative Politiker und Journalisten traten dem entgegen. So betonte die Journalistin Paula Bolyard: „Mathematik lügt nicht. Sie ändert sich auch nicht durch politische Strömungen.“ Das für Bildung zuständige Ministerium des US-Bundesstaates Oregon – an der fernen Westküste, nördlich von Kalifornien, und von Demokraten regiert – meinte jedoch: „Das Konzept, dass Mathematik rein objektiv ist, ist eindeutig falsch. Die Aufrechterhaltung der Idee, dass es immer richtige und falsche Antworten gibt, verewigt die Objektivität sowie die Angst vor offenen Konflikten.“ Hier entlarvt sich Zweierlei. Zum einen wird die Mathematik zu einem Problem erklärt, vor deren Zumutungen „zartbesaitete Studierende“ bewahrt werden müssten; ihrem Drang nach „sicheren Räumen“ (Safe Spaces) soll gefälligst Rechnung getragen werden (Das Blättchen, No. 9/2020). Zum anderen wird „Objektivität“ an sich verurteilt. Auf diesem Wege kehren wir ins Mittelalter zurück: im 13. Jahrhundert war bei den Philosophen in Oxford, die sich von der Vormundschaft der Theologie befreien wollten, der Verweis auf die Mathematik, nämlich dass 2+2 immer 4 ist, ein Argument, dass das sowohl für die göttliche Wahrheit gilt als auch für die menschliche. Weshalb also die göttliche Wahrheit auch dem Menschen zugänglich sei, nicht nur durch Offenbarung. Wenn man das abschafft, also 2+2 je nach Stimmung oder Gefühl des Rechnenden 3, 4 oder 5 sein kann, sind wir wieder im vor-wissenschaftlichen Zeitalter, in einer finsteren Zeit der Ignoranz.
Das Ministerium in Oregon ficht das jedoch nicht an. Es forderte die Lehrer seines Wirkungsbereichs auf, sich für Weiterbildungskurse zu „Ethnomathematik“ anzumelden. Der heutige Bildungstrend besage, das Bestehen auf einem korrekten Resultat im Mathematik-Unterricht sei Symbol „weißer Vorherrschaft“. Deshalb seien für jede Aufgabe mindestens zwei Ergebnisse vorzubereiten. Auch das Vorführen von Rechenwegen im Unterricht sei Signal für Infiltration des Klassenzimmers durch „White Supremacy Culture“.
In Deutschland geriet dieses Geschehen sofort in die üblichen politischen Frontstellungen. Der Südkurier aus Konstanz und die Kölnische Rundschau schrieben: „2 plus 2 ist – das dürften erfahrene Mathematiker gewiss bestätigen – immer noch 4. Doch bald könnten in den USA, in denen sich politische Korrektheit in der Rassismus-Debatte in alle Bereiche des täglichen Lebens unaufhaltsam ausbreitet, auch andere Ergebnisse als ‚richtige‘ Antworten zugelassen werden. Etwa die Zahl 3. Oder die 5. Vielleicht auch 12.“ Die rechte Junge Freiheit titelte: „Leitfaden: US-Lehrer sollen Rassismus in Mathematik bekämpfen“. Die AfD machte daraus: „Irrenhaus: Wegen ‚Rassismus‘ sollen mehrere Mathe-Antworten erlaubt sein!“
Daraufhin meldete sich die ARD-Redaktion „Faktenfinder“ zu Wort und betonte, das Ministerium in Oregon habe zwar einen Online-Kurs für Lehrer zur Erreichung von mehr Gleichheit in den Mikro-Kursen zur Mathematik angeboten, der die Ergebnisse von schwarzen, lateinamerikanischen und mehrsprachigen Schülern verbessern soll. Die am meisten kritisierten Passagen stammten jedoch aus einem anderen Dokument, das vom Bildungsministerium nur verlinkt wurde. Das betreffe die Position, es sei „ein Zeichen der Kultur der weißen Vorherrschaft […], wenn Pädagogen von den Schülerinnen und Schülern verlangten, ihre Arbeiten vorzulegen“, sowie die, Lehrer sollten den Schülern „verschiedene Möglichkeiten bieten“, mit denen sie „ihre Lösungswege zeigen könnten, beispielsweise Diskussionen oder Multimedia-Projekte“. Das sei jedoch, so der „Faktenfinder“ nicht vom Ministerium selbst empfohlen worden. Davon, die Ergebnisse zu tanzen, war noch nicht die Rede.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung verweist auf eine Studie der Brookings Institution aus dem vergangenen Jahr, wonach bei dem seit 100 Jahren geschriebenen standardisierten Test für Absolventen der Highschools die Erfüllungsquote in Mathematik am schwersten zu erreichen sei. Bei den 2,1 Millionen Schulabgängern lag die Erfüllung durchschnittlich bei 523 von 800 möglichen Punkten, darunter bei afroamerikanischen Absolventen bei 454 Punkten, hispanischstämmigen bei 478 und weißen bei 547 Punkten; Prüflinge mit asiatischen Wurzeln dagegen erreichten 632 Punkte. Etliche Pädagogen in den USA schlagen vor, Algebra für Schüler, die später keine MINT-Fächer (Mathematik, Ingenieur-, Natur- oder Technikwissenschaften) studieren wollen, überhaupt abzuschaffen.
Vielleicht sollte man, statt der Mathematik Rassismus zu unterstellen oder sie im Unterricht überhaupt abschaffen zu wollen, sich mit soziologischen Problemen befassen. Etwa der Differenz zwischen Haushalten weißer, schwarzer und Latino-Familien, nach Einkommen und Bildungsgrad sowie Beruf der Eltern. Dass es nicht nur eine Frage sozialer Schichtungen ist, sondern auch der Kultur und der Motivation, zeigt der Befund, dass die Absolventen aus asiatisch-stämmigen Familien – die meist erst spät in die USA einwanderten – deutlich vor den Weißen liegen.
Das wiederum korrespondiert mit der Tatsache, dass es nicht die Europäer, die Weißen waren, die die Mathematik begründeten. Abgesehen von den ersten Rechenversuchen der Sumerer, Ägypter, Griechen und Römer beginnt das fortgeschrittene Rechnen mit der Erfindung der Null. Das geschah vor etwa 1500 Jahren in Indien. Über die Araber kamen diese Kenntnisse in den Mittelmeerraum und nach Europa, aus Indien nach China und Südostasien.
Insofern ist die Idee, Mathematik sei eine „weiße“ Wissenschaft, völlig abseitig. Wenn man es tribalistisch oder kulturkreismäßig zuordnen will, dann waren es Inder und Araber, sozusagen Brüder und Schwestern der selbsternannten „People of Color“, die sie schufen. Menschen aus Ländern, die später dem europäischen Kolonialismus anheimfielen; anders gesagt: die wussten bereits, dass 2 plus 2 gleich 4 ist, bevor die Kolonialisten und Imperialisten kamen. Am schönsten beschrieben hat die Geschichte der Mathematik vor 40 Jahren der Mathematik-Historiker Georges Ifrah in seinem Buch: „Universalgeschichte der Zahlen“. Der war Professor in Paris, stammte jedoch aus Marrakesch in Marokko. Ifrah ist ein Name aus dem nordafrikanischen Arabisch.
Schlagwörter: Bernhard Romeike, Mathematik, Politische Korrektheit, Rassismus