23. Jahrgang | Nummer 9 | 27. April 2020

Trigger-Verzwergung

von Bernhard Romeike

Den Gedichtband von Bertolt Brecht „Hundert Gedichte. 1918–1950“ kaufte ich mir 1968. Das war die 4. Auflage einer Gedichtsammlung, die Brecht nach seiner Rückkehr nach Deutschland, in die DDR, zusammengestellt hatte und die erstmals 1951 erschien. Draußen ziert den Band das Bild eines „chinesischen Theewurzellöwen“, über den Brecht gedichtet hatte: „Die Schlechten fürchten deine Klaue./ Die Guten freuen sich deiner Grazie./ Derlei/ Hörte ich gern/ Von meinem Vers.“

Kürzlich kam ein Band mit Gedichten von Till Lindemann heraus, dem Frontsänger der Band „Rammstein“, betitelt mit „100 Gedichte“. Darin findet sich ein Gedicht über eine Vergewaltigung. Einschlägige Feuilletonisten, von Der Spiegel und Die Zeit am Ende bis zu neues deutschland haben sich an diesem Gedicht abgearbeitet. Da das linksliberale Feuilleton ein paar Monate zuvor dem Kinderchor des WDR zugebilligt hatte, „Oma ist eine Umweltsau“ singen zu dürfen, weil das Kunst sei, konnte jetzt nicht das Gegenteil erklärt werden. Also verurteilten alle einmütig, rein menschlich, sozusagen politisch korrekt, das Gedicht als solches, räumten aber ein, Lindemanns Kunstproduktion dürfe das, gewissermaßen freiheitlich-demokratisch. Niemand aber kritisierte, dass der Titel des Bandes größenwahnsinnig bei Brecht geklaut ist. Es sei denn, die rezenten Urheberrechtler kommen zu dem Befund, „100 Gedichte“ sei etwas völlig anderes als „Hundert Gedichte“.

Musikexpress.de aus dem Hause Springer hat den entsprechenden Beitrag mit einer „Triggerwarnung“ versehen: „In diesem Text werden Passagen aus einem Gedicht besprochen und zitiert, die bildhaft Vergewaltigungsphantasien beschreiben.“ Brauchen wir jetzt dringend „Triggerwarnungen“, allüberall?

Das Wort „Trigger“ kommt vom englischen „Auslöser“ oder „ausgelöst“ und stammt hier aus der Psychologie; gemeint sind Auslöser von Erinnerungen traumatisierter Menschen an ihre Traumata, ursprünglich bei Soldaten, die unter Posttraumatischen Belastungsstörungen aus Kriegseinsätzen litten, dann erweitert auf Gewaltopfer im weitesten Sinne, Missbrauchsopfer und Vergewaltigungsopfer. Um die Erinnerung an das Trauma zu vermeiden, sollen Bilder, Filmsequenzen oder Worte, die solche „Trigger“ sein können, nicht gesehen und gehört werden. Aus einer einfachen Maßnahme, Betroffene vorzuwarnen, wurde in den USA rasch die Forderung nach Zensur, die insbesondere im Sinne der Identitätspolitik benutzt wird. An Universitäten wurde plötzlich über Auftritte „kontroverser“ Redner gestritten, Trigger-Warnungen griffen um sich.

Der deutsche Jurist und Autor Horst Meier kommentierte Ende 2019 in NDR Kultur diese Entwicklung an den US-amerikanischen Universitäten mit Verweis auf die sozialen Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten. „Zartbesaitete Studierende fordern ’safe spaces‘ und ‚trigger warnings‘, also sichere Räume und Warnungen vor womöglich schockierenden Inhalten. Altvordere argwöhnen, die von ihnen so genannten ’snowflakes‘, die zarten Seelchen, schmollten in ihren Schonräumen, weil sie einer robusten Debatte nicht gewachsen seien.“ Kehrseite dieser Empfindsamkeit ist eine um sich greifende Angst, „als Sexist oder Rassist, als schwulen- oder islamfeindlich abgestempelt zu werden“. Die in der Verfassung der USA garantierte „Freiheit der Rede“ wird so ausgehöhlt, nicht durch den Staat, sondern durch seine Bürger. US-Psychologen sehen in der „Snowflake“-Generation vor allem die überbehüteten Mittelstandskinder, deren Eltern auf dem Weg zur Universität alle Beschwernisse des Lebens von ihnen ferngehalten haben. Außerdem sind sie die erste Generation, die in den „sozialen Medien“ aufgewachsen ist. Auf digitalen Plattformen kann Störendes blockiert, ein Kokon erwünschter Nachrichten und Inhalte geschaffen werden. Nun fordern sie die ihnen bekannten virtuellen Filter auch für die real existierende, haptisch wahrnehmbare Welt.

Im Vergleich dazu war der „Index librorum prohibitorum“ der Heiligen Inquisition noch eine kommode Angelegenheit. Bereits 1996 verlor ein Professor in Kalifornien einen Prozess wegen „sexueller Belästigung“: Er hatte den Auftrag erteilt, einen Essay über die Definition von Pornographie zu schreiben. An der Columbia-Universität in New York forderten Studenten, Ovids „Metamorphosen“ mit Trigger-Warnungen zu versehen, wegen „sexueller Gewalt“. Studenten der Rutgers-Universität in New Jersey forderten dasselbe für Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“, wegen der Suizid-Problematik. 2019 wurde der Rechtsprofessor Ronald Sullivan an der Harvard-Universität seines Amtes als „Faculty Dean“ eines der zwölf Wohnheime der Universität enthoben – das ist kein Fakultäts-Dekan im Sinne einer deutschen Universität, eher der wissenschaftliche Ansprechpartner für Studierende, eine Art Hausvorsteher. Studenten hatten seine Ablösung gefordert, die Universität sei mit ihm „kein sicherer Raum“ mehr. Sein Vergehen bestand darin, dass er als Strafverteidiger eine Berufung in das Verteidiger-Team des beschuldigten Sexualstraftäters und Filmproduzenten Harvey Weinstein angenommen hatte. Hier geht es nicht mehr „nur“ um die Freiheit der Rede, sondern um den Kernbestand des bürgerlichen Rechtsstaates.

In deutschen Betrachtungen zu dem Thema werden in der Regel die Verhältnisse in den USA dargestellt. Tatsächlich hat das Problem längst Deutschland erreicht. Die Studenten-Randale gegen Vorträge des Wirtschaftsprofessors Lucke, der mal AfD-Vorsitzender war, und von Ex-Innenminister Thomas de Maizière ging durch die Medien. Das Gedicht „Avenidas“ von Eugen Gomringer war vor über zwei Jahren von der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin entfernt worden, weil Studierende sich in seiner Gegenwart „nicht wohlfühlten“ und es „sexistisch“ fanden. Die taz berichtete von Debatten bei den Amerikanisten der Berliner Humboldt-Universität. Die Professorin Eva Boesenberg hatte das Stück „The Emperor Jones“ des US-amerikanischen Dramatikers und Literaturnobelpreisträgers Eugene O’Neill auf die Leseliste gesetzt. Das ist ein „historisches Werk“ aus dem Jahre 1920, allerdings kommt darin mehrmals das böse „N-Wort“ vor. Deshalb verweigerten Studentinnen das Lesen. Solche Entwicklungen gebe es vor allem in der Amerikanistik, den Gender Studies und der Ethnologie, hieß es, vielleicht weil sie am engsten an den US-amerikanischen Diskursen angelagert sind. Professorin Boesenberg hat dann übrigens „Emperor Jones“ aus den Kursplänen genommen.

An der Harvard-Universität äußerten Rechtsstudenten Bedenken, Vorlesungen über Sexualstrafrecht zu besuchen, weil es da um Vergewaltigungen geht. Man stelle sich mal kurz vor, ein Chemie-Student würde erklären, er wolle sich nicht mit den bösen Säuren befassen, weil: die können alles zerfressen, und da fühle er sich nicht wohl. Er wolle sich nur mit veganen, ungiftigen Farbstoffen beschäftigen. Der würde sofort aus dem Studiengang fliegen. Und das wäre auch gut so, ein Chemiker, der keine Ahnung von den Chemikalien hat, taugt nicht einmal zum Alchimisten. Aber in den Sozial- und Geisteswissenschaften vermeint man, genau so etwas tun zu können.

Die Befürworter dessen können sich jedoch nicht auf den Unterschied von Science und Humanities herausreden. Ich bin in einem Naturwissenschaftler-Haushalt aufgewachsen, mir wurde schon frühzeitig beizubringen versucht, dass Geistes- und Sozialwissenschaftler grundsätzlich belletristische Schwätzer sind, die der Sache nach nichts wirklich wissen und nichts können. Meine Sohn-Vater-Spannung ging dann so aus, dass ich den väterlichen Wünschen nicht folgte und Sozialwissenschaftler wurde. Wenn ich jetzt aber sehe, wie sich das im Spätkapitalismus fortentwickelt hat (ich verweise jetzt absichtsvoll nicht auf Lenin und seine Grundannahme von „Fäulnis“), hatte er wohl eine ziemlich zutreffende Vorstellung. Vielleicht sollte man das den tendenziellen Fall der Aufklärungsrate nennen – je verzwergter die wissenschaftlichen Ansätze, desto weniger Gesellschaftskritik.