24. Jahrgang | Nummer 5 | 1. März 2021

Unzeitgemäße Betrachtungen

von Waldemar Landsberger

Ja, der obige Titel ist entlehnt. Bei Friedrich Nietzsche. Die erste dieser Betrachtungen wurde zum „gesellschaftlichen Skandal“, wie es in der Rückschau heißt. Gibt es heute so etwas überhaupt noch? Wahrscheinlich müsste man dazu Angela Merkel in obszönen Collagen zeigen, sodass Facebook oder TikTok das löschen. Eine Bildbearbeitung hingegen, die die Kanzlerin als faltige Greisin mit eingefallenem Mundwerk zeigt und sie sagt: „Es ist vorbei, ihr dürft wieder raus“, drückte zweierlei aus: Sie bleibt noch weitere 16 Jahre im Amt und die Internierung der Bevölkerung wegen der Seuche dauert noch genauso lange. Das Bild ging durch die asozialen Medien, ohne dass jemand Anstoß nahm. Also: Einen „gesellschaftlichen Skandal“ gibt es im 21. Jahrhundert nicht mehr. Nur noch unterschiedliche Aufgeregtheiten in verschiedenen „Filterblasen“.

Nietzsche schrieb gegen den „Bildungsphilister“. Heute weiß wahrscheinlich nur noch die christlich gebildete Minderheit in diesem Lande, was „Philister“ bedeutet. In der Bibel war das ein Volk im heutigen Palästina, gegen das die Juden vor 3000 Jahren kämpften, um das von Gott zugewiesene Land zu erobern. Daraus wurde dann in Deutschland durch Luther und die Romantik die Spezies des besonders engstirnigen Kleinbürgers. „Bildungsphilister“ ist also jemand, der schmalspurig eine Scheinbildung vorweist, die auf einseitige, begrenzte Betrachtungen und Besserwisserei hinausläuft. Heute auf eine „Cancel Culture“, die ernsthaften Debatten ausweicht, Themen, Worte und Argumente verteufelt und den jeweiligen Sprecher des verunglimpften Wortes oder Arguments verunmöglichen und aus dem öffentlichen Raum, in dem man „frei“ sprechen darf, verbannen will.

Als ich darüber nachdachte, was im öffentlichen Raum derzeit schiefläuft, fiel mir ein Gespräch mit einem russischen Politiker ein, das ich am Rande einer Konferenz vor über zwanzig Jahren führte. Bereits damals wurde Russland wegen seiner restriktiven Einwanderungspolitik kritisiert. Ich fragte den Mann, der jahrelang Gouverneur eines größeren Gebietes im Osten und dann Politiker in Moskau war, warum das so ist. Er sagte, die Migranten kämen zunächst als Flüchtlinge ins Land und pochten auf das humanitäre Völkerrecht. Wenn man sie dann hereinließe, wollten sie aber weder Sprache noch Kultur des Gastlandes annehmen, sondern siedelten sich in kompakten Gemeinschaften an und würden weiter ihre Sprache sprechen. Als nächstes forderten sie im Namen von Minderheitenrechten die Unterstützung ihrer Sprache und Schulen sowie ihrer Religion. Wenn das gewährt sei, forderten sie die Anerkennung als politische Gemeinschaft und am Ende unter Umständen die politische Autonomie. Und wenn wir das verhindern wollen – so der Mann damals –, müssen wir bereits bei der Einwanderung aufpassen.

Nun mag man das als russischen engstirnigen Nationalismus abtun, während die EU – ähnlich wie die USA – inzwischen ein Einwanderungsgebiet ist. Gleichwohl hat man inzwischen den Eindruck, dass die Ausweitung von Minderheiten- Forderungen genau nach einem solchen Stufenplan erfolgt. Das gilt übrigens nicht nur für Flüchtlinge und Migranten sowie die Kultur Zugewanderter. Jedoch fällt auf, dass etwa die „Black Lifes Matter“-Bewegung aus den USA nach Europa transponiert wurde, obwohl die historischen Bedingungen hier ganz andere sind. Unter Verweis auf die Mordtaten einzelner rechtsextremer Verbrecher wird praktisch der gesamten deutschstämmigen Bevölkerung a priori unterstellt, einem „strukturellen Rassismus“ zu unterliegen, obwohl doch die Mehrheit dieser Bevölkerung sich keineswegs als „Rassisten“ sieht oder gar aufführt und den Zugewanderten insgesamt freundlich und offenherzig gegenübersteht. Das ergibt eine völlig schiefe Perspektive.

Andere Gruppen gehen nach dem gleichen Muster vor. Es war eine Form von Staatsverbrechen, dass Schwule und Lesben, vor allem aber schwule Männer, in Deutschland jahrzehntelang geächtet, von Staats wegen verfolgt und ins Gefängnis, zur Nazi-Zeit sogar ins KZ gebracht und ermordet wurden. Ächtung und Verfolgung wurden nach 1945 fortgesetzt, in der rechtsstaatlichen BRD deutlich länger als in der übel beleumdeten DDR. Heute ist all dies Geschichte. Inzwischen sind auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften und Ehen, einschließlich der Erziehung gemeinsamer Kinder, gesellschaftliche Realität. Gleichgeschlechtlich Orientierte sind nach wissenschaftlichen Befunden etwa drei bis fünf Prozent der Population. Insofern haben die gesetzlichen Regelungen für diese Minderheit die „natürlichen Umstände“ inzwischen gesellschaftlich akzeptiert.

Nachdem dies realisiert war, entwickelte sich eine neue Welle zur Etablierung von Minderheitenrechten, die sich mit dem oft tragischen Schicksal von Transgender-Menschen befasst. Auch dies war jahrhundertelang ein trauriges Kapitel gesellschaftlicher Ächtung und Gewalt. Es war an der Zeit, auch hier eine Regelung zu treffen, die dem Grundgesetz – „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ – entspricht. Aber weshalb muss im öffentlichen Raum jetzt unablässig über dieses Thema debattiert werden? Es geht um einen Teil der Gesellschaft, der deutlich kleiner ist, als die fünf Prozent der Schwulen und Lesben. Der Staat soll auch diesen Menschen die Grundrechte gewährleisten. Aber weshalb wird darüber ständig so diskutiert, als sei es quasi eine Schande, ein „binärer“ Mensch zu sein, schlicht und einfach heterosexuell, wie die etwa 95-prozentige Mehrheit der deutschen Bevölkerung? Nimmt man die Debatten in den „politisch korrekten“ Medien insgesamt, so wird derzeit versucht, der Mehrheitsbevölkerung einseitige, moralisierende Minderheitendiskurse aufzunötigen.

Nun hat eine Gruppe homosexueller Schauspielerinnen und Schauspieler eine Erklärung verfasst, dass sie doch das Recht haben müssten, jegliche Rollen zu spielen – auch heterosexuelle Mütter und Väter mit eigenen Kindern. Richtig. Schauspieler sollen alles spielen dürfen, was sie spielen können. Dies wird aber zu einer Zeit gefordert, da in den USA gerade einer heterosexuellen Schauspielerin verwehrt wurde, eine homosexuelle Frau zu spielen. Zudem fordern tribalistische Gruppenvertreter, dass nur Transgender-Menschen Transgender-Menschen spielen dürften, weil: andere würden deren Schicksal nicht verstehen. Schwarze dürften nicht von Weißen gespielt werden; Autisten dürften nur von Autisten gespielt werden et cetera.

Argumente im Namen der Menschenrechte und im Rechtsstaat sind jedoch nur dann stichhaltig, wenn sie für alle gelten. Wenn Homosexuelle die Rolle von Heteros spielen dürfen, müssen auch heterosexuell veranlagte Schauspieler Homosexuelle spielen dürfen. Wenn Schwarze Rollen spielen dürfen, die im Drama für Weiße vorgesehen sind, muss das auch umgekehrt gelten. Die eine Diskriminierung rechtfertigt weder die nächste, noch wird sie durch diese gar aus der Welt geschafft oder auch nur zu Null saldiert.

Vor etlichen Jahren wurde Bischof Kardinal Lehmann, über zwanzig Jahre Vorsitzender der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, gefragt, was er von Moscheen in Deutschland halte. Seine Antwort: Wenn in Mekka eine christliche Kirche gebaut werden darf, haben wir Gleichberechtigung.