Im August 1936 schrieb Heinrich Mann über „das politische Schicksal der Deutschen“ den Essay „Der Weg der deutschen Arbeiter“. Er erschien vier Monate später in der von Johannes R. Becher in Moskau geleiteten Zeitschrift Internationale Literatur. In vier Abschnitten kommentierte er den Weg „Über Gesetzlichkeit“ – „in die Knechtschaft“ – „Durch Heldentum“ – „zur Freiheit“. Der erste Teil behandelte „die Vorgeschichte des heutigen Zustandes“ – den Weg der Weimarer Republik bis zu der Krise, in der sie fiel. Er ist wieder bedenkenswert.
Frühzeitig fiel auf, welche bestimmte Abneigung die deutschen Sozialdemokraten gegen die Revolution hatten. Deutschland wäre nach der militärischen Niederlage wahrscheinlich eine Monarchie oder eine Kette von Monarchien geblieben, wenn es nur an ihnen gelegen hätte. Die Verwaltung würden sie gern übernommen haben. Eigentlich stand es 1918 derart, dass die Gewerkschaftsführer schon Deutschland verwalteten. Die kaiserlichen Behörden, unpraktisch und veraltet wie sie waren, hätten niemals vier Kriegsjahre hindurch die Bevölkerung versorgt und bei der Sache erhalten. Unaufhörlich zogen die alten Behörden die Gewerkschaften hinzu, und 1918 überließen sie ihnen den Platz allein. Die Sozialdemokraten waren hoch erstaunt, als sie sich im Besitz der Macht sahen.
Was fängt man unter solchen Umständen mit der Macht an? Nur nichts Umwälzendes. Die Industrie war am Ende des Krieges zu weit unten, nach Ansicht der Sozialdemokraten konnte sie nicht sozialisiert werden. Vielmehr sahen sie es als ihre Pflicht an, die Radikalen niederzuwerfen, gerade weil diese „Spartakisten“ und künftigen Kommunisten wirklich sozialisiert hätten. Daher das bekannte Zerwürfnis der beiden sozialistischen Gruppen. Es schien damals unheilbar und hat unaufhaltsam zum Sturz der Republik geführt. Indessen kein Machthunger der Sozialdemokraten spielt dabei mit: nur ihre kleinbürgerliche Ängstlichkeit und Ordnungsliebe. Bei mehr Sinn für die Macht wären sie selbstverständlich mit den Linksradikalen gegangen, denn was ihnen von rechts drohte, war schlimmer. Durch ihre Partei-Koalitionen wurden sie im Politischen schrittweise zu Handlangern der Nationalisten – immer bei sorgfältigster Verwaltung des Staates.
Woran sind diese, ursprünglich gutwilligen Menschen gescheitert? An demselben Gebrechen, das fast alle Deutschen seit wenigstens fünfzig Jahren befallen hatte. Ihnen fehlte der Sinn für Freiheit. Ohne diesen Sinn bleibt man untergeordnet. Mit ihm dagegen wird man befähigt, neue Ordnungen selbst zu errichten. Der Sinn für Freiheit bedingt den Machtwillen. Ein freier Sinn urteilt, beschließt, und lässt lebensfremde, lehensfeindliche Mächte nicht länger befehlen. Die Ideologie der Freiheit und persönlichen Verantwortung hätte niemandem erlaubt, den Untergang des Kaiserreiches in der furchtbarsten Katastrophe zuerst tatenlos abzuwarten, und dann die Macht, die man notgedrungen vom Boden aufhob, ungenutzt zu lassen. Es ist aber nicht der Augenblick, Einzelnen noch Vorwürfe zu machen. Die Führer von einst erwidern mit Recht, dass die Arbeiter selbst nicht revolutionär, kein beträchtlicher Teil von ihnen für Freiheit und Macht zu begeistern war.
Das deutsche Proletariat kannte die Freiheit und den Kampf um sie bis vor kurzem nur vom Hörensagen. Jährlich einmal wurden seine Abordnungen an die Gräber der Märzgefallenen, von 1848, geführt. Außerdem war ihnen bekannt, dass Bismarck mit seinem Sozialistengesetz die erste Generation ihrer Klassenkämpfer vielfach verfolgt hatte. Überwundener Sturm und Drang, seither hatte das Proletariat sichere Rechte erworben. Es saß im Besitz von Rechten wie jede andere Klasse. Seine Rechte konnten erweitert werden; die Republik, ein Beschluss des Schicksals, war wie geschaffen, die proletarischen Rechte zu erweitern, hat es auch wirklich getan, insofern es ohne Sinn für Macht und Freiheit geschehen konnte. Das geistige Grundgesetz des Proletariates – und aller Republikaner – blieb die Legalität: aber für wen gilt die? Nur für die Schwachen unbedingt. Wer stark ist durch eine wirtschaftliche Überlegenheit, die niemand anrührt und beseitigt, wird seine Macht bald auf das Politische erstrecken.
Dies ist in der ungeahntesten Weise geschehen, und das Proletariat, das an der Gesetzlichkeit hing, ist gerade darum entrechtet worden bis auf den letzten Rest. […]
Die sozialistische und demokratische Ordnung verlangt die geistige Lebendigkeit aller. Nur die Erziehung jedes Einzelnen zum selbstbewussten Mitglied einer freien Gesellschaft erlaubt ihr, frei zu bleiben. Auch die Entmachtung des Kapitals erfolgt nicht mechanisch oder zwangsläufig, dann wäre sie unverdient, und unverdiente Gaben halten nicht vor. Sondern der soziale Aufstieg insgesamt ist das Werk der herrschenden Vernunft und des erlebten Freiheitssinnes.
Die Republik hätte ihn zum Erlebnis machen sollen. Sie hat viele Gelegenheiten versäumt: die Präsidentenwahl, der Panzerkreuzer A, alles konnte den Anlass abgeben für eine wirkliche Freiheitsbewegung. Aber was vermag ein Regime, das seine ganze Dauer in einem durchaus unfruchtbaren Bürgerkrieg verbringt. Die Zerstörung der sozialistischen Einheitsfront gleich anfangs erklärt vollauf eine politische Tatenlosigkeit ohnegleichen, den Verzicht der Republik sich durchzusetzen. […] Der Grund war Schwäche, war ein schon vollzogener Verzicht. Innerlich war er vollendet längst bevor er nach außen hervortrat, und Hitler hätte sogar früher antreten dürfen: man war auf ihn gefasst und nicht im Ernst gewillt, die Republik zu verteidigen. Was ist die Republik? Die Sozialdemokraten dachten: Tarife und Wohlfahrtspflege. Es ist aber die Republik ein Geist. Sie ist der Geist der Freiheit und des kollektiven Machtwillens: sonst ist sie tot und hat nicht gelebt.
Eine nie gesehene Entmutigung, sie ist das Bild der Republik in ihren letzten Zeiten. Keine Niedergeschlagenheit aus greifbaren Anlässen. Die Wirtschaft versagte auch anderswo. Wer Mut gehabt hätte, wendete das gegebene Mittel an, trat der nationalistischen Bewegung entgegen und sozialisierte die größten Betriebe. Die nationalistische Bewegung schwankte und war zweifellos besiegbar, sobald man wollte. Man konnte nicht wollen: eine Demokratie hat soviel Willen zur Macht, als sie Sinn für Freiheit hat; hier war keiner. Der Ausfall an Idee und Willen aber entwertet sogar die praktischen Leistungen eines Staates. Dieser nahm sich ehrlich der kleinen, am meisten bedrohten Existenzen an, seine Wohlfahrtspflege war ausgedehnt, sie war nachgiebig bis zur Vergeudung und übte, aus Verzweiflung, zuletzt keine Aufsicht mehr. Leute, die verdienten, holten sich von ihr noch Geschenke. Dennoch dankte niemand es ihr. […]
Warum all der Zweifel und diese gelähmte Ergebung angesichts eines nahen Unterganges, der nach dem Verhältnis der wirklichen Kräfte abwendbar schien? Unmittelbar vor der Katastrophe ging unter meinem Fenster ein kleiner Zug von Arbeitern vorbei. Ihr Schritt war matt, die Gesichter verdrossen, und von Zeit zu Zeit rief einer, an dem die Reihe war, das Wort „Freiheit“ in eine Welt ohne Echo. Es war ein Wort, sonst nichts. Klang keineswegs nach Erlebnis, nach Wissen und Willenskraft. In dem vereinsamten, ungeglaubten Wort lag die bisherige Geschichte des deutschen Proletariates, aller deutschen Versäumnisse und eines falschen Aufbruchs.
Schlagwörter: Freiheit, Gesetzlichkeit, Heinrich Mann, Revolution, Sozialdemokratie