24. Jahrgang | Nummer 5 | 1. März 2021

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: Schaulauf der vermeintlich zehn Besten: Blick aufs 58. Berliner Theatertreffen im Mai / „Hüter des Schönen“ – Auszeichnung für Peter Stein in Italien.

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Alle Jahre wieder … – kommt das Theatertreffen. Jetzt zum 58. Mal. Und heuer ist sehr viel anders als sonst. Zunächst die unverdrossen zukunftsfrohe Ansage: Die traditionsreiche Leistungsschau des deutschsprachigen Schauspiel- und Performance-Betriebs in Berlin findet statt. Vom 4. bis zum 23. Mai. – Aber: Festival-Chefin Yvonne Büdenhölzer verweist vorweg schon auf mögliche Änderungen im Ablauf „entsprechend dem dynamischen Pandemiegeschehen“.

Das nun quält alle Welt schon seit langen. Da mag es einigermaßen grotesk erscheinen, trotzdem ein solch zentrales Branchenereignis zu veranstalten. Schließlich war das 2020er Theaterjahr extrem reduziert; die allermeisten Produktionen harren nach wie vor im Wartestand.

Also: Man trotzt verhalten optimistisch den Umständen. Und so soll es auf jeden Fall, selbst wenn alle Stricke reißen, zumindest eine digitale Festivalausgabe geben. Ansonsten überlege man sich vorsorglich unterschiedliche Szenarien; auch bezüglich des vielgliedrigen Rahmen-Programms sowie der Modalitäten der üblichen Preisverleihungen (Stiftung Preußische Seehandlung, 3sat-Preis, Alfred-Kerr-Darstellerpreis). Der konkrete Festival-Ablauf wird – voraussichtlich! – noch im März bekannt gegeben. Immerhin, der TV-Sender 3sat will auch diesmal unter dem Motto „Starke Stücke“ eigens produzierte Aufzeichnungen von drei eingeladenen Inszenierungen senden. Wenigstens ein absolut sicherer Programmpunkt.

Die Auswahl der zehn – wie es laut Satzung lakonisch heißt – „bemerkenswerten“ Produktionen im Zeitraum vom 27. Januar 2020 bis zum 5. Februar 2021 bezeichnete Thomas Oberender, Intendant des Veranstalters Berliner Festspiele, als „Zeugnis eines Ausnahmezustands“. Konnte doch die mit sieben Profi-Kritikern besetzte Jury in dieser auch sonst üblichen Zeitspanne bloß ein Rest-Repertoire leibhaftig inspizieren; musste sich ansonsten zu Hause auf Streamings im Laptop stürzen. Beispielsweise auf die nominierte, abstrakt-fantastische „Zauberberg“-Paraphrase nach Thomas Mann von Sebastian Hartmann, die im Deutschen Theater Berlin (DT) ihre fürs Netz aufbereitete Premiere hatte, derweil die gleichfalls nominierte „Maria Stuart“-Inszenierung (Schiller) von Anne Lenk im DT es gerade noch mit einer Aufführung live schaffte in der ganz kurzen Herbstspielzeit vor dem Lockdown Nr. 2.

Insgesamt wurden von den sieben Begutachtern 285 Inszenierungen in 60 Städten (Deutschland, Österreich, Schweiz) besichtigt; diesmal etwa ein Drittel weniger als sonst. 531 sogenannte Voten standen zur Diskussion, aus denen die Shortlist von 26 Produktionen entstand, aus der wiederum die Hitliste der besagten zehn gefiltert wurde, bei der freilich eine Frauenquote von mindestens 50 Prozent gesetzt war bezüglich der Regie – das Theatertreffen (TT) ist ein Regie-Wettbewerb; den für neue Dramatik gibt‘s zum alljährlichen Stücke-Festival in Mülheim, das am Rande.

Inwiefern das ausgewählte Zehner-Tableau den Leistungsstand des deutschsprachigen Theaterbetriebs repräsentiert, sei dahingestellt. Auch professionelle Kritik (die Jury) unterliegt immer zu beträchtlichem Teil der Subjektivität. Zudem spielen noch nichtkünstlerische, nämlich politisch-ideologische sowie – wegen der nicht unkomplizierten Gastspielorganisation – logistische Faktoren und obendrein pekuniäre Erwägungen (der Etat ist einzuhalten) eine gewisse Rolle. Auch wenn das natürlich von offizieller Seite immerzu vehement abgestritten wird.

Dennoch: eine gewisse signifikante Momentaufnahme spiegelt sich allemal. Und es ist spannend, dass nicht nur die Leistungen des mehr oder weniger hoch subventionierten Staats- und Stadt-Betriebs inspiziert wurden, sondern nahezu gleichermaßen die (vermeintlichen) Leistungsspitzen im üppigen Off-Bereich.

Unaufhaltsam auf dem Vormarsch (etwa gegenüber dem klassisch psychologischen, erzählenden Einfühlungstheater) ist weiterhin die Postdramatik mit sagen wir spartenübergreifender Ästhetik (Film, Artistik, Musik, Gesang, Tanz bis hin zum Figurenspiel sowie dem Einsatz von dokumentarischem Material).

Dabei wird klar, dass gerade dieses oft wuchtig bildhaft und extrem assoziativ geprägte Verfremdungs-Theater dem Publikum eine große Aufgeschlossenheit für neue Sehweisen abverlangt, was zugegeben nicht jedermanns Sache ist. ‑ Anderseits: Wo, wenn nicht auf einem internationalen, immerhin weltweit beachteten Großfestival ist auch die Zurschaustellung des Neuen (durch die Neuen), des Innovativen und Experimentellen eine – hoch gegriffen – heilige Pflicht, allen Gewohnheiten zum Trotz.

Und hier, neben den beiden DT-Nominierungen, die weiteren acht TT-Einladungen:

  • „Automatenbuffett“, die Wiederentdeckung eines Kleinbürgerdramas von Anna Gmeyner (1902–1991), Regie: Barbara Frey, Burgtheater Wien.
  • „Einfach das Ende der Welt“, die Geschichte eines queeren Künstlers in der Provinz nach Jean-Lux Lagarce, Regie: Christopher Rüping, Schauspielhaus Zürich.
  • „Graf Öderland“, eine Moritat von Max Frisch, Regie: Stefan Bachmann, Koproduktion Theater Basel und Bayerisches Staatsschauspiel München.
  • „Medea“, (sehr) frei nach Euripides, Regie: Leonie Böhm, Schauspielhaus Zürich.
  • „Reich des Todes“, eine Polit-Revue über die Verkommenheit von Machteliten von Rainald Goetz, Regie: Karin Beier, Deutsches Schauspielhaus in Hamburg.
  • „NAME HER. Eine Suche nach den Frauen+“, eine feministische Performance mit Anne Tismer, Idee, Konzept, Text, Regie: Marie Schleef, Ballhaus Ost (Berlin), Münchner Kammerspiele, Kosmos Theater Wien.
  • „Show Me a Good Time“, digitales Projekt der staatlich geförderten, arrivierten freien Gruppe Gob Squad, eine Off-Gemeinschaftsproduktion mit Produktionshäusern in Berlin, San Diego, Frankfurt/Main, Bern, Hamburg.
  • „Scores That Shaped Our Friendship“, Tanzprojekt von und mit Lucy Wilke und Pawel Dudus vom vielfach geförderten Produktionshaus Schwere Reiter in München.

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Peter Stein: „Ich bin höchst besorgt; ich sehe, dass das Entscheidende, was das europäische Theater ausmacht, das ausgeglichene Verhältnis von Rationalem und Irrationalem, schwer gestört ist. Das Rationale geht allein über den Text. Das Irrationale, Wahnsinnige ist nur schwer vermittelbar. Und wenn, dann nur aufgrund von Analyse.“ So spricht Großregisseur Stein, da war er Anfang sechzig.

Inzwischen ist er 83 und gilt als einer der großen, stilprägenden Erneuerer des – um im 68er Jargon zu bleiben – vermufften westdeutschen Nachkriegstheaters. Später gründete er die mit ihm und einem legendären All-Star-Ensemble zu Weltruhm aufsteigende Berliner Schaubühne. Nach seinem Weggang vom Kurfürstendamm inszenierte er sensationelle Großprojekte an spektakulären Orten – etwa Goethes „Faust I und II“ zur Expo 2000 in Hannover oder später Schillers „Wallenstein“ in den Hallen einer ebenso ausgedehnten wie ausgedienten Brauerei in Berlin.

Spätestens seit Steins philologischer Schwerstarbeit, sämtliche 12.110 „Faust“-Verse auf eine Bühne zu bringen („Ich lese Goethe wie andere die Tageszeitung.“), stand akribische Text-Exegese absolut im Mittelpunkt seiner Theaterarbeit. Das Szenische war ihm eher nachgeordnet, womit er sich zunehmend dem auf Bilderfluten, Action und Dekonstruktion erpichten Zeitgeist entgegenstellte. Seither gilt er mehrheitlich als textfrömmster Regisseur, was man abwertend meint.

„Lachhaft“, so sein Kommentar. „Ich bin vielleicht bibelfest, aber kein stur Textgläubiger. Ich habe fast immer auch gestrichen, umgeschrieben, nachgedichtet; freilich mit gebotener Vorsicht.“ Das habe nichts mit der Rücksichtslosigkeit zu tun, mit der „seit den sechziger Jahren auf der Bühne von vorn und von hinten in sämtliche Löcher hinein koitiert wird. Ich dachte, mit bestimmten politischen Illusionen sei auch diese Mode passé.“

Da irrte Stein, was den Germanisten, Kunstwissenschaftler und studierten Handschriftenkundler in seinem so skrupulösen Ringen „um die Vergegenwärtigung des Vergangenen“ zunehmend deprimierte. Er zog sich – nach einem Zwischenspiel als Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele (die Kritik schmähte seine Inszenierungen antiker Klassiker als „gipsern“) – vom Betrieb zurück; von gelegentlichen Produktionen abgesehen. Und der Betrieb ließ ihn links liegen.

Um die Jahrtausendwende verlegte Peter Stein seinen Wohnsitz nach Italien, kaufte ein Landgut in Umbrien, zwei Autostunden jenseits von Rom. Seither betreibt er dort mit seiner jüngeren Ehefrau, der Schauspielerin Maddalena Crippa, Landwirtschaft (Olivenanbau) sowie ein kleines Privattheater, in dem er mit Studenten arbeitet. Ein der grellen Mode-Bühne mit ihren irren Klassikerzertrümmerungen entrücktes Refugium des Feinen, Freien und – Stein-Schönen.

Man weiß das zu bewundern; freilich nicht hierzulande, sondern jetzt beispielsweise in Italien. Syrakus, die alte Stadt am Ionischen Meer mit dem größten antiken Amphitheater der Magna Graecia, ehrt Peter Stein mit dem heuer zum sechsten Mal vergebenen Preis „Custo della Bellezza“. Er werde, so die sizilianische Meldung, im Sommer, am 5. Juni, im Griechischen Theater verliehen, „wo der Maestro Stein 2004 eine ‚Medea‘ von seltener Schönheit in Szene gesetzt hat“.

Benannt ist die Auszeichnung für den berühmten Erforscher alter Theatertexte sinnigerweise nach dem syrischen Archäologen Khaled al-Assad (1932–2015), der ein halbes Jahrhundert lang die Ruinenstätte Palmyra erforschte, bis ihn die Terrormiliz Islamischer Staat entführte und ermordete.

„Custo della Bellezza“ heißt schlicht und ergreifend „Hüter des Schönen“. Die Preis-Jury zählt Peter Stein „zu den wichtigsten Künstlern des europäischen Theaters der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ und würdigte sonderlich „den großen kreativen Schwung der 1970er Jahre, als er monumentale Großprojekte oft in ungewöhnlichen Räumen, realisiert hat“. – Peter Stein gibt sich gerührt und gesteht nüchtern: „Man möchte geliebt werden.“