24. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2021

Polens Ritter ohne Furcht

von Jan Opal, Gniezno

Wenn ganz vorne Linien aufgegeben werden, heißt das nicht, dass man hinten alles schleifen lassen darf. Im Gegenteil – die Zügel müssen fest in der Hand bleiben. Drei Fälle aus diesem Jahr unterstreichen, wie sehr das Regierungslager in Polen jetzt danach strebt, innere Festigkeit zurückzugewinnen. Zunächst gab Jarosław Kaczyński in der Abtreibungsfrage grünes Licht, denn das umstrittene Urteil des Verfassungstribunals vom 22. Oktober 2020 hatte seither auf die amtliche Veröffentlichung gewartet. Die heftigen Frauenproteste Ende Oktober erzwangen wenigstens diese Hängepartie, die nun aber mit einem kurzen Federstrich beendet wurde. Winterkälte gepaart mit Pandemie schien Kaczyński die beste Bedingung zu sein, einen neuen und frontalen Proteststurm der Frauen vermeiden zu können, wenn das von ihm geführte Polen sich nun offiziell zu einem Land erklärt, in dem Abtreibung faktisch verboten ist. Ob die Rechnung allerdings noch stimmen wird, wenn die Frühlingssonne wieder wärmt, steht längst noch nicht fest. Und spaßige Kritiker werfen ein, dass das von den Nationalkonservativen eingeführte gesetzliche Kindergeld nun ab erfolgter Befruchtung der Eizelle auszuzahlen sei.

Neben der Frauenfrage treibt Polens starken Mann jetzt vor allem die sogenannte Nationalisierung der privaten Medien um, damit es irgendwann auch hier nationalkonservativer zugeht. Nachdem der öffentlich-rechtliche Sektor vollständig unter Regierungskontrolle gebracht wurde, übrigens mit dem witzigen Argument, endlich für ausgleichenden Meinungspluralismus gesorgt zu haben, soll es nun den widerspenstigen Privatmedien an den Kragen gehen. Geplant ist nach ungarischem Vorbild eine neue Steuer auf Werbeeinnahmen, damit zusätzliches Geld in die öffentlichen Kassen gespült wird, aus denen wiederum die Regierungspropaganda üppig finanziert wird. Der Protest nahezu aller privater Medien im Lande am 10. Februar 2020 war einhellig. Die geliebte Radiostation schwieg, die Zeitung in schwarz, das Fernsehprogramm zusammengestrichen, das Webportal ohne Zugriffsmöglichkeit – das Thema war schlagartig in aller Munde und damit öffentlich. Und noch etwas wurde sichtbar: Im Regierungslager gibt es keinerlei Überlegungen, was werden soll, wenn es – was unter demokratischen Verhältnissen absehbar ist – nicht mehr für die Regierungshebel reichen wird.

Schließlich gab es in den zurückliegenden Tagen einen weiteren Versuch des Kaczyński-Lagers, aller Welt die sogenannte Pädagogik der Schande vorzuführen. Allerdings empörte sich die Weltöffentlichkeit angesichts seiner gespenstischen Züge. Eine von Kaczyńskis Vorfeldorganisationen hatte sich eine bemerkenswerte Publikation zur Erforschung des Judenmords in Polen während der deutschen Okkupation zur Brust genommen, die bereits im Erscheinungsjahr 2018 von den Regierungsmedien als ein wissenschaftlich nicht haltbares Tendenzmaterial zur Verunglimpfung Polens scharf attackiert worden war. Bereits damals war klar, dass Kaczyński in seinem Feldzug gegen die „Pädagogik der Schande“ einerseits – soweit ihm möglich – das konsequente Unterbrechen von Geldflüssen zur Finanzierung von Forschungsarbeit einsetzt, zugleich aber darauf pocht, die Grenzen aufzuzeigen, an denen die Freiheit des Wortes und die Freiheit der Wissenschaft in dem von ihm regierten Polen zu enden haben. Nun kam es zu einem Gerichtsprozess, weil sich eine nachgeborene Familienangehörige fand, die in dieser Publikation den Ruf ihres Vorfahren böswillig verunglimpft sah.

Stein des Anstoßes ist der Doppelband „Dalej jest noc“ (Die Nacht dauert an), den als Herausgeber Barbara Engelking und Jan Grabowski fachlich zu verantworten haben. Anhand von Fallstudien aus 18 Amtskreisen im okkupierten Polen wurde Spuren nachgegangen, die den Judenmord jenseits der großen Vernichtungsaktionen näher ans Licht rücken. Dabei stand naturgemäß das besondere Verhältnis zwischen den von den Okkupanten verfolgten Juden Polens und der unter den Okkupationsbedingungen lebenden polnisch-christlichen Bevölkerungsmehrheit im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Die Okkupanten blieben dabei im Hintergrund, ohne dass aber dem leisesten Zweifel an der tiefen und unbeschreiblichen deutschen Schuld am Judenmord in Polen Vorschub geleistet wurde. Es ging um die Frage, was denn mit den etwa 200.000 Menschen passiert war, die die mörderische Sense der Vernichtung bis zum Herbst 1943 zunächst überlebt hatten, aber den Moment der Befreiung 1944/45 dennoch nicht mehr erleben konnten. Und hier wiegt die jeweils individuelle Schuld in der polnisch-christlichen Umgebung besonders schwer – sei es als offener Verrat, als feige Kollaboration mit den Besatzern oder als unmittelbare Tat. Das Argument, dass die Menschen diese schlimmen Taten ohne die Besatzung nie begangen hätten, was auch stimmt, ließen die Herausgeber aus wissenschaftlichen Gründen in den Untersuchungen nicht gelten. Sie wollten die Tat kennzeichnen und festhalten, nicht die jeweilige Motivation des Täters in den Mittelpunkt stellen.

Das Warschauer Gericht beschied in seinem Urteilsspruch, dass sich die beiden Herausgeber bei der Klägerin öffentlich zu entschuldigen hätten. Die allerdings haben nur den Verweis auf ein Dokument zu verantworten, in dem bestimmte unliebsame Fakten genannt werden, die in dem Buch zitiert werden. Ohne in die Einzelheiten zu gehen, demonstriert dieses Beispiel anschaulich, wie auf der von Kaczyński erklärten „Insel der Freiheit“ inmitten eines Meeres der Unfreiheit die Freiheit des Wortes und die Freiheit der Wissenschaft verstanden werden.