24. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2021

Fenster in der Kriminalgeschichte

von Frank-Rainer Schurich

Fenster – was für ein Zauberwort! Goethe nannte sie „Taglöcher“. Über ihre praktische Zweckbestimmung hinaus können Fenster eine ästhetische Kraft entfalten und besitzen ein großes symbolisches Potenzial. Deshalb haben sie zahlreiche Dichter besungen, denn sie weiten den Blick hinaus in die Welt. So meinte der englische Schriftsteller Max Beerbohm (1872–1956) in „Mainly on the Air“: „Fenster haben einen hohen Wert. Für einen Menschen ist ein Fenster das, was ein Rahmen für ein Bild, ein Proszenium für ein Stück ist.“

Und der US-amerikanische Autor Jack Kerouac (1922–1969) forderte uns sogar in seinem Roman „On the Road“ (deutsch „Unterwegs“) auf, Fenster unablässig zu studieren: „Ich habe ein paar wirklich verrückte Fenster gesehen, die mir Gesichter schnitten, und einige von ihnen hatten die Läden zu, und doch blinzelten sie.“ In der Erzählung „New Yorker Szenen“ schreibt er romantisierend, dass im Sonnenuntergang die Fenster wie Orangen aussehen …

Das ist aber nur die schöne Seite der Medaille. Unzählige Kriminalfälle in Gegenwart und Vergangenheit erinnern uns an die andere, die ziemlich hässlich daherkommt. Man kann von außen in das Zimmer sehen und von innen heraus, man kann sich aus dem Fenster lehnen und gesehen werden oder etwas beobachten, man kann durch ein Fenster einbrechen und nach der Missetat das Haus verlassen, man kann mit einem Stein die Fensterscheiben zertrümmern. Der kriminellen Möglichkeiten gibt es halt viele.

„Philosophisch gesehen ist das Aus-dem-Fenster-Gucken die Auslastung eines Loches in der Hauswand, um die Möglichkeiten eines gegebenen Blickwinkels optimal zu genießen.“ Dies schrieb Kurt-Rudolf Böttger im Heft 16/1981 der Weltbühne. Ein junger Mann genoss im Sommer 1971 optimal seinen Ausblick in der Werbelliner Straße in Eberswalde. Das hätte er nicht tun sollen.

Denn am 10. November 1971 wurde der 13-jährige Andreas K. in der Schule von der Polizei befragt; der Eberswalder Kindermörder lief immer noch frei herum. Seiner Aussage zufolge war Andreas K. im Winter 1969/70 in der Nähe der Drehnitzwiese Ski gefahren. Während er allein im Wald war, kam ein jüngerer Mann auf ihn zu, den der Junge schon einmal gesehen hatte. Der Mann fragte, ob der Schüler noch ein Stück weiter mit in den Wald kommen wolle, denn dort könne man besser Ski laufen. Das tat der Junge, und als ihm eine Bindung am Fuß aufgegangen war und er sich gebückt hatte, gab ihm der unbekannte Mann einen Stoß, so dass er in den Schnee fiel.

Der Unbekannte beugte sich zu ihm hinunter – und drohte mit einem offenstehenden Taschenmesser: „Wenn du schreist oder deinen Eltern etwas sagst, dann wirst du von mir erstochen.“ Das Messer steckte der junge Mann dann in den Schnee. Danach zog er den Reißverschluss vom Hosenschlitz des Knaben herunter und spielte ihm am Glied. Der Schüler hatte große Angst und vertraute sich seinen Eltern nicht an.

Nun aber erzählte Andreas K., dass er diesen Mann im Sommer 1971 in der Werbelliner Straße gesehen hatte, als der aus dem Fenster sah. Es war der Serienmörder Erwin Hagedorn, der 1969 und 1971 drei Jungen sadistisch tötete.

Am 21. Februar 1977 wurde eine junge Frau in den Abendstunden in der Nähe der Bezirksparteischule Mittweida ermordet – auf der Neusorger Straße. Der Täter blieb viele Jahre unbekannt. Erst am 13. Dezember 1988 nahm man einen Verdächtigen fest, den vorbestraften Holger F., der damals in der Nähe des Tatortes wohnte. Nach langem Ringen legte er ein Geständnis ab. Er konnte damals von seinem Mansardenzimmer auf die Neusorger Straße sehen. Schon im Zug von Karl-Marx-Stadt nach Altmittweida hatte er diese junge Frau mit der großen Tasche bemerkt. Er sah nun aus dem Fenster und erblickte sie wieder. Sie ging auf der Neusorger Straße den sogenannten Käseberg in Richtung Parteischule hinauf. Alkoholisiert und ohne Geld beschloss er, der Frau die große Tasche wegzunehmen. Er eilte aus dem Haus, rannte hinterher, hatte sie nach der Kuppe des Käseberges eingeholt und wollte ihr die Tasche entreißen. Aber die junge Frau schrie und wehrte sich energisch. Mit einem Messer, das Holger F. immer mit sich führte, erstach er sie brutal.

Ein klassischer Raubmord, bei dem sich das Opfer zur falschen Zeit am falschen Ort befand – weil der Mörder es vom Fenster aus erneut gesehen hatte.

Im berühmten Fall „Heftpflaster“ (Mai 1985 bis März 1986) suchte die Kriminalpolizei einen Serienvergewaltiger, der in Ostberlin und im östlichen Berliner Randgebiet unterwegs war. Den Codenamen verdankte der Täter seiner Begehungsweise. Unter Ausnutzung der Dunkelheit drang er in Räumlichkeiten ein, in denen Frauen allein schliefen. Er bedrohte sie mit einem Messer, knebelte sie, verklebte ihnen Augen und Mund mit Heftpflaster, fesselte und vergewaltigte sie. Teilweise zerschlug er Fensterscheiben oder stieg durch Fenster ein. Die Opfer – 19 bis 78 Jahre alt.

Die Tatorte lagen alle im Parterre oder Hochparterre, denn bevor „Heftpflaster“ zuschlug, beobachtete er im Schutz der Dunkelheit die Gegebenheiten und sah tagelang in die erleuchteten Fenster. So auch in der Wilhelm-Guddorf-Straße südlich der Frankfurter Allee im Berliner Bezirk Lichtenberg. Er wusste seit Tagen, dass der Hausmeister einer nahegelegenen Schule gegen drei Uhr zur Arbeit ging, während seine Frau noch fest schlief. Am 18. Dezember 1985 stieg er gegen halb vier über ein Fenster des Wohnzimmers ein …

Beim Versuch, in ein Haus in Neuenhagen einzudringen, konnte „Heftpflaster“ schließlich verhaftet werden. Er hieß Heinz R. und war ein vorbestrafter verheirateter Einbrecher, der seinen „Kick“ brauchte und sich mit dem Blick durch die Fenster seiner potenziellen Opfer auskannte. Das Stadtbezirksgericht Berlin-Marzahn verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren. 1998 kam er wieder auf freien Fuß; ein Jahr später verhaftete man ihn in Magdeburg wegen weiterer Vergewaltigungen.

Anzumerken bleibt, dass in vielen Kriminalfilmen das Fenster für den entscheidenden Blick verantwortlich ist. In „Das Fenster zum Hof“, einem Thriller aus den USA (1954) mit James Stewart und Grace Kelly, beobachtet ein Fotograf einen Mord im Apartment gegenüber, doch niemand glaubt ihm. Ein genialer Hitchcock-Klassiker!

Dass auch Polizisten und Kriminalisten den geheimen Wunsch haben, einmal ein Fenster zu zerstören, beschreibt der englische Autor Colin Dexter in seinem zehnten Inspector-Morse-Roman „Der Weg durch Wytham Woods“ sehr treffend. Chief Superindentent Strange, also ein hoher Polizeibeamter, hatte sich empört gezeigt über den Aufruhr in der Siedlung Broadmoor Lea: Autodiebstahl, Spritztouren, Einbrüche, Steinewerfen … Das war, so Strange in Gedanken, der beginnende Zusammenbruch von Recht und Ordnung, die Missachtung von Autorität – Polizei, Kirche, Eltern, Schule. „Doch in einer lästigen, unerforschten kleinen Ecke seiner Erinnerungen wusste er, dass er beinahe etwas von alldem verstehen konnte – einen winzigen Bruchteil. Er erinnerte sich, dass er als Junge – und als ziemlich privilegierter Junge obendrein – den geheimen Wunsch gehegt hatte, einen kompakten Ziegelstein durch das Fenster eines besonders wohlausgestatteten Hauses zu werfen …“