Josephine, Josephine!“ – Mit diesem Ausruf leitet Friedrich Dieckmann seine Überlegungen zu Beethovens Leben und Werk ein. Es geht dabei zunächst um eine Liebesgeschichte, die für die Komposition der im Sommer 1814 entstandenen, dem Grafen Lichnowsky gewidmeten Klaviersonate op. 90 den Ausschlag gab. Er habe, erklärte Beethoven seinem Freund und Förderer, dessen dramatische Affäre mit der Sängerin Josephine Stummer „in Musik setzen wollen“. Dieckmann hingegen meint: „Lichnowsky als Bezugsgestalt einer Beethovenschen Sonatenkonzeption – das ist nicht sehr wahrscheinlich“. Vielmehr haben wir es mit Beethovens eigener unglücklicher Nicht-Beziehung zu Josephine Brunsvik, der zentralen Sehnsuchtsgestalt seines Lebens, zu tun. „Es ist“, meint Dieckmann, „als habe er ihren Verlauf im ersten Satz rekapitulieren wollen, um im zweiten die Erinnerung an das entschwundene Glück zu berufen und es dergestalt als ein unzerstörliches festzuhalten.“
Wo spielt Beethovens Oper „Fidelio“? Dieser Frage ging Dieckmann bereits vor Jahrzehnten nach; und er stellt sie sich jetzt noch einmal. Der Ort der Handlung, da gibt es für ihn keinen Zweifel, könnte überall sein, denn „es ist unsere Welt, die ,Fidelio‘ beschreibt“. Unsere, immer wieder vom „Missbrauch obrigkeitlicher Gewalt“ und der „Entartung staatlicher Gewalt“ heimgesuchte Welt. Und mit Blick auf die von den politischen Verhältnissen geprägte Entstehung- und Aufführungsgeschichte gilt es eine weitere Frage zu stellen: „Hatte sich Beethoven den falschen Stoff für seine Oper ausgesucht?“ Dieckmanns Antwort darauf lautet: „Insofern es der richtige war, konnte es nur der falsche sein.“
Fünfzehn Jahre vor dem „Fidelio“, dieser „Willensmusik, wie es sie niemals vorher oder nachher gegeben hat“, entstand die Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II. (WoO 87). Unmittelbar nach dessen Tod am 20. Februar 1790 hatte der 19-jährige Beethoven den Auftrag dazu erhalten. Das wahrscheinlich erst Mitte 1790 abgeschlossene Werk kam jedoch nicht nur zu spät – die von der Bonner Lese- und Erholungs-Gesellschaft organisierte Trauerfeier war auf den 19. März festgesetzt worden –, es überstieg auch bei weitem die Fähigkeiten der Bonner Hofkapelle. Was Beethoven zu den sein innerstes Lebensgefühl berührenden Versen des nur zwei Jahre älteren Kandidaten der Theologie Severin Anton Averdonk einfiel, hat ihn bis hin zum Finale des „Fidelio“ nicht wieder losgelassen. Die Uraufführung der siebenteiligen, für Dieckmann „nicht anders als Bekenntnismusik“ zu bezeichnenden Kantate hat Beethoven nicht mehr erlebt, sie fand erst im November 1884 in Wien statt.
„Gesänge der Versöhnung“ und „Die Wiederkehr des Dramas“ hat Dieckmann seine bisher unveröffentlichten Gedanken zu Beethovens letzten beiden Klaviersonaten betitelt. Mit der Arbeit an Opus 110, nach George Bernard Shaw die „schönste aller Beethoven-Sonaten“, begann der Komponist im Sommer vor 200 Jahren. Fertiggestellt wurde sie, so der Vermerk auf dem Autograph, am 25. Dezember 1821. Am Ende seiner Überlegungen zu diesem epochalen Werk schreibt Dieckmann: „Ist das noch ,absolute‘ Musik? Sie ist es, insofern sie ohne das Wort auskommt, insofern sie selbst eine sprechende Musik im tiefsten wie im höchsten Sinn ist, einen Seelenton ausbildend, so voller Kunst und voller Schicksal, dass er sich dem Hörer als etwas anträgt, das er längst in sich zu tragen glaubt, wenn er ihn zum ersten Mal vernimmt.“ Noch vor dem Abschluss von Opus 110 skizzierte Beethoven die ersten Takte für seine zweiunddreißigste und zugleich letzte Klaviersonate c-Moll op. 111. Das aus nur zwei Sätzen bestehende, im Frühjahr 1822 abgeschlossene und sicherlich zu Recht zum Mythos gewordene Werk besticht durch seine Gegensätzlichkeit: auf der einen Seite der in seiner Dramatik an die „Pathétique“ erinnernde Kopfsatz und auf der anderen Seite der sich über ein schlichtes C-Dur-Thema erhebende Variationssatz. „Per aspera ad astra, durch Dunkelheiten zu den Sternen oder verkürzt: durch Nacht zum Licht – diesen Vers des Seneca [der sich sinngemäß im 2. Akt von dessen Tragödie ,Der wildgewordene Herkules‘ findet] hat man oft genug und manchmal wie ein Klischee auf Beethovens Musik bezogen. Es ist“, resümiert Dieckmann, „als hätte der Komponist ihn mit dieser seiner letzten Sonate buchstäblich wahr machen wollen.“
Nach bedeutenden Arbeiten zu Wagner und Schubert bringt Friedrich Dieckmann mit diesem zwar kleinen, aber inhaltsschweren Bändchen seine jahrzehntelange Beschäftigung mit Beethoven auf den Punkt. Die Essays verweisen nicht nur auf die geistige Dimension von dessen Musik, sie fordern vor allem zum Neu-Hören auf. Geschmückt wird der Band von einer selten wiedergegebenen, 1862 entstandenen, aber erst drei Jahrzehnte später von dem Kunsthistoriker und Beethoven-Forscher Theodor von Frimmel entdeckten Zeichnung des österreichischen Malers Moritz von Schwind. Anders als das allbekannte und stark idealisierte, den Maestro beim Komponieren der „Missa solemnis“ zeigende Gemälde des königlich-bayerischen Hofmalers Joseph Stieler haben wir hier, um mit Dieckmann zu sprechen, „ein Erinnerungsporträt, in dem dem Zeichner mit leichter Hand das Gültige geglückt war“.
Man darf gespannt sein, was die neue Reihe der „Ornament Essays“ in Zukunft bereithält. Zur Mitte des Jahres, das darf schon verraten werden, erscheint unter dem Titel „Zeitzeichen“ ein Band mit Essays von Jens-Fietje Dwars.
Friedrich Dieckmann: Beethoven und das Glück. Essays mit zwei Zeichnungen von Strawalde und einem Beethoven-Porträt von Moritz von Schwind (Ornament Essays, Bd. 1), Edition Ornament im quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2020, 128 Seiten, 18,00 Euro.
Zudem findet sich im Internet die Aufzeichnung eines Gesprächs über Friedrich Dieckmanns Buch.
Schlagwörter: Friedrich Dieckmann, Ludwig van Beethoven, Mathias Iven, Musik