24. Jahrgang | Nummer 2 | 18. Januar 2021

Wirtschaft 2021: Zwischen Gesundbeten und Horrorszenario

von Jürgen Leibiger

Den Aktienbörsen zufolge sind die Wirtschaftsaussichten für dieses Jahr blendend. Der DAX hat den tiefen, dem Lockdown folgenden Einbruch im Frühjahr 2020 wettgemacht und ein Allzeithoch erreicht. Gleiches gilt für Dow Jones und NIKKEI. „Kaufen“ lautet die Devise. Regierungen und Zentralbanken unternehmen maximale Anstrengungen, den konjunkturellen Niedergang in Grenzen zu halten; Geld gibt es in Hülle und Fülle, Kredite sind billig wie noch nie. Also: Kaufen. Aber das Erklimmen immer neuer Höchststände könnte sich auch als Pyrrhussieg erweisen. Erfüllen sich die Ertragserwartungen nicht, folgt ein tiefer Sturz. Der Blick auf die Indizes könnte trügerisch ein.

Die Wirtschaftsforschungsinstitute prophezeien für 2021 ein positives Wirtschaftswachstum und eine Überwindung der Krise. Natürlich konstatieren auch sie, dass Vieles vom weiteren Verlauf der Pandemie und den wirtschaftspolitischen Reaktionen abhängt, weshalb die Wirtschaftsprognosen von noch höheren Unsicherheiten als sonst geprägt seien. Aber alles in allem überwiegt der Optimismus. Das Berliner DIW geht von 5,3 Prozent Wachstum des Bruttoinlandsprodukts BIP aus, das gewerkschaftsnahe IMK von 4,9. Die Bundesbank prognostiziert in ihrem Basisszenario 3 Prozent, im günstigsten Fall 5,6 und im schlechtesten Fall minus 0,2 Prozent. Für den Euro-Raum schätzt die Europäische Zentralbank ein Wachstum von 3,9 Prozent und bezüglich der Welt insgesamt tippt die Weltbank in ihrem jüngsten Bericht vom Januar 2021 auf ein Wachstum von 4,3 Prozent, wobei die Entwicklungsländer mit 5,2 Prozent und China mit 7,9 Prozent – dem international höchsten Wert – zu Buche schlagen.

All diese Einschätzungen stehen selbstverständlich unter dem Vorbehalt, dass man die Pandemie in den Griff bekommt, der Lockdown in Kürze ausläuft und in den meisten Ländern ein Impfstoff zur Verfügung steht und sich als wirksam erweist. Die Tatsache, dass zum Beispiel die Bundesregierung den Lockdown um vier weitere Wochen verlängert hat, ist in diesen Prognosen noch nicht eingepreist. Er kostet nach Einschätzung von Michael Hüther, dem Chef des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft, pro Woche zwischen 3,5 und 5 Milliarden Euro. Gemessen am wöchentlichen BIP von zuletzt um die 65 Milliarden sind das mit 5 bis 8 Prozent zwar keineswegs Peanuts, aber aufs Jahr hochgerechnet würde der jetzige 4-wöchige Lockdown weniger als ein Prozent Wachstum kosten. Und vielleicht kommt die Regierung sogar zum Schluss, dass es außer dem Lockdown und der Impfung Alternativen zur Verlangsamung der Pandemie gibt. Also: Ende gut, alles gut?

Leider nicht. Die Krise ist mit einem Schwelbrand vergleichbar. Im Moment wird noch alles von den gigantischen Staatshilfen und dem Aussetzen der Insolvenzmeldungen überdeckt. Aber nicht wenige Wirtschaftssegmente wie der Handel, Tourismus, Gast- und Unterbringungsgewerbe und weitere Dienstleistungen oder der weitgefächerte Bereich der Kulturwirtschaft werden ein Frühjahrserwachen nicht mehr erleben. Das stark exportorientierte verarbeitende Gewerbe ist darüber hinaus von der Auslandsnachfrage abhängig. Auch hier sind die Perspektiven unsicher, weil schwer abzuschätzen ist, wie sich das Geschehen bei den wichtigen Handelspartnern entwickeln wird. An der Spitze der Exportzielländer stehen die USA, wo es noch offen ist, wie sich die neue Administration angesichts der weltweit höchsten Infektionszahlen verhalten wird. Auch die Entwicklung der Nachfrage aus den europäischen Ländern ist angesichts des wirtschaftspolitischen Flickenteppichs und des Brexit unklar. Die Exporte Richtung China scheinen sich zwar ziemlich stabil entwickeln zu können, aber der 7-Prozent-Anteil dieses Landes an der deutschen Ausfuhr könnte negative Entwicklungen in Europa kaum aufwiegen.

All das hat schwerwiegende Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Viele Soloselbständige, Freiberufler, kleine und mittlere Unternehmen werden die nächsten Monate nicht überstehen. Die Arbeitslosenzahlen werden nach ihrem üblichen Höchststand im Februar wohl nicht wie sonst ab März wieder sinken. Die dadurch verursachten Einkommenseinbußen belasten vor allem die Haushalte am unteren Ende der Skala erheblich und verstärken die ohnehin existierende soziale Schieflage zu Ungunsten der abhängig Beschäftigten. Und aus dem Lager der Kapitalvertreter werden vorsorglich die üblichen Argumente gegen Lohnerhöhungen und für weitere Steuersenkungen hervorgeholt.

Blickt man etwas weiter in die Zukunft, wirft die Schuldenbremse ihre Schatten voraus. Die Schuldenquote der öffentlichen Haushalte stieg 2020 auf wohl über 70 Prozent und wird auch dieses Jahr mindestens auf diesem Niveau bleiben. Der Druck auf die Haushalte wird nicht nur infolge der zwar erst später einsetzenden, aber nichtsdestotrotz wie ein Damoklesschwert über den öffentlichen Haushalt hängenden Tilgungsverpflichtungen wachsen. Darunter werden sowohl die konsumtiven wie die investiven Ausgaben mit entsprechenden Folgen für Infrastruktur, Sozial-, Bildungs- und Kultureinrichtungen leiden. Für eine gewisse Entspannung könnten eine Vermögensabgabe und Vermögenssteuern, wie sie von linken Ökonomen gefordert werden, leisten. Die Partei DIE LINKE hat dazu einen auf Berechnungen des Berliner DIW beruhenden detaillierten Vorschlag gemacht. Seine Verwirklichung setzt aber eine Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse voraus. Optimismus verbietet sich hier eher.

Die Verschuldung spielt auch in anderer Hinsicht eine große Rolle. Vielen privaten Haushalten wachsen ihre Schulden über den Kopf. Und die Lage der Unternehmen ist nicht viel besser; die Bundesbank spricht von „beispiellosen Herausforderungen bei der Liquiditätssicherung.“ Kreditausfälle größeren Ausmaßes können – man erinnere sich an die Krise 2008 – eine ganze Volkswirtschaft ins Rutschen bringen; da hilft es auch nicht, dass diesen Krediten gigantische private Vermögen gegenüberstehen. Die öffentliche Verschuldung stellt für Deutschland angesichts seiner Wirtschaftskraft, seiner Zahlungsbilanz und der historisch niedrigen Zinsen zurzeit kein existenzielles Problem dar. Das gilt auch unter Berücksichtigung dessen, dass die Gläubiger ihr Geldvermögen im sicheren Hafen des Staates parken können und einer krisenbedingten Entwertung entziehen.

Für viele, vor allem ärmere Länder sieht das aber völlig anders aus. Am Trend der weltweit sinkenden Zinsen haben sie nur zum Teil partizipiert. Mindestens 124 Staaten galten schon vor der Pandemie als kritisch verschuldet, 17 Länder befanden sich 2020 im Zahlungsausfall und stellten ihren Schuldendienst ganz oder teilweise ein. In dieser Situation zogen globale Investoren im Verlauf des vorigen Jahres mehr als 80 Milliarden US-Dollar aus den Schwellen- und Entwicklungsländern ab, ein in diesem Ausmaß noch nie dagewesener Kapitalabfluss. Weltbank und Internationaler Währungsfond warnen vor einer neuen Schuldenkrise. Ihre Auswirkungen könnten verheerend sein, allein in Afrika könnten, so die Berechnungen des Entwicklungsprogramms UNDP, knapp die Hälfte aller Jobs vernichtet werden, was die Armutsbekämpfung um Jahrzehnte zurückwerfen würde. Ein Horrorszenario nicht nur für diese Länder, sondern auch für Europa und Deutschland.