24. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2021

Honecker beim Papst – Papst in die DDR?

von Herbert Bertsch

„Botschafter Böker, Rom (Vatikan) berichtete am 29. November 1972 (an Staatssekretär Frank im Auswärtigen Amt – H.B.): ‚Wie der über Belgrad abgewickelte Notenwechsel zwischen der DDR-Regierung und dem Heiligen Stuhl zeigt, treten wir wohl in eine Phase direkter Beziehungen dieser beiden Völkerrechtssubjekte ein. Wie sich diese entwickeln, ist in diesem Stadium noch nicht abzusehen. […] Es darf aber nicht aus den Augen gelassen werden, daß die diplomatische Anerkennungssucht der DDR dem Bedürfnis gewisser vatikanischer Kreise, insbesondere Erzbischof Casarolis, begegnet, auf dem bisher steinigen Acker der vatikanischen Ostpolitik einbringen zu können.‘“

(Dokument 415 vom 20. Dezember 1972 in „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1972“, R. Oldenbourg Verlag, München 2003, Seite 1853.)

Diese Vorausschau ließ nicht lange auf Bestätigung warten: Am 18. Januar 1973 nahmen die DDR und Italien diplomatische Beziehungen auf. DDR-Botschafter Klaus Gysi rückte in Rom ein und praktizierte zugleich auch die zuvor vereinbarten offiziellen Beziehungen mit dem Vatikan. Das gehörte zu den mittelbaren Auswirkungen des Grundlagenvertrages, der am 21. Dezember 1972 zwischen BRD und DDR abgeschlossen wurde. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß dieser Vertrag im Bundestag nur mit 268 zu 217 Zustimmungen ratifiziert wurde, kann man verstehen, daß die Gegner weiterhin hemmungslos die Folgen des Verzichts auf Alleinvertretung zu minimieren und zu hintertreiben suchten. Ein besonders intensiver Kampf mit Nachwirkungen bis in die gegenwärtige Geschichtsdarstellung und deren Deutung war und bleibt die vatikanische Ostpolitik; nicht nur gegen, sondern auch mit der DDR als eigenständigem, gleichberechtigten Partner, so dies im gegenseitigen Interesse lag.

Kürzlich erschien, thematisch und zeitlich bis zu „Corona“ geführt, die erweiterte Nachauflage einer Erinnerungssammlung mit dem pfiffigen Titel „Deutschland aus der Vogelperspektive – Eine kleine Geschichte der Bundesrepublik“ aus 2007. Ein Geschichtswerk ist das gewiss nicht, wohl aber sind es Erfahrungen der in ihren politischen Ämtern hoch positionierten Akteure Bernhard und Hans-Jochen Vogel, im Selbstzeugnis als legitimierte „Brüder im Geiste“; im katholischen, versteht sich.

Als bekennender Katholik mit kirchlicher Zustimmung zur Wiederverheiratung, zeitweilig als SPD-Vorsitzender und auch deren Kanzlerkandidat, war das für Hans-Jochen Vogel nicht immer einfach, zumal sich relativ heftig Schwierigkeiten zwischen politisch „neuer Ostpolitik“ und widerstrebendem Beharren auf revanchistischen Positionen bei den deutschen katholischen Bischöfen und Laienorganisationen auftaten; je nach Interessenlage zusätzlich belastet oder unterstützt durch die „neue Ostpolitik“ der Päpste und des „Heiligen Stuhl“. Besonders deutlich und folgenreich wurde dies während des langen – 26 Jahre und fünf Monate währenden – Pontifikats von Johannis Paul II. Das Urteil von Genscher dazu: „Ohne den Staatsmann Karol Wojtila wäre die Freiheitsrevolution der Jahre 1989 und 1990 nicht so unblutig verlaufen. Mit seiner Ostpolitik und seiner moralischen Autorität hat Johannes Paul die Wende maßgeblich verursacht“ (Wikipedia: Johannes Paul II.). Aus der „Vogelperspektive“ offenbar ähnlich gesehen, gibt es ein relativ umfangreiches Kapitel „16. Oktober 1978 – Ein Pole wird Papst“: „Zum ersten Mal habe ich Johannes Paul II. anläßlich seiner Amtsübernahme am 22. Oktober 1978 in Rom gesehen“, schreibt Hans-Jochen Vogel. „Als Bundesjustizminister vertrat ich bei dieser Gelegenheit die Bundesregierung und Bundeskanzler Helmut Schmidt, der infolge einer fiebrigen Erkältung nicht reisen konnte“ (Seite 176). Hierbei interessiert uns als Stichwort die „Unpässlichkeit“ des Kanzlers.

Am 17. Oktober 1978, also am Abend des Tages nach der Berufung Wojtilas zum Papst, telefonierten Kanzler Schmidt und der DDR-Staatsratsvorsitzende Honecker wie häufig miteinander und kamen zunächst zum offenbar beide interessierenden aktuellen Thema: „Sch.: ‚Mir ist das alles manchmal bißchen zu viel‘. H.: ‚Nach dieser langen Reise jetzt. Wie war es in Japan?‘ Sch.: ‚Ja, da habe ich mir eine Grippe mitgebracht. Was sagen Sie denn zu dem neuen Papst, Herr Honecker?‘ H.: ‚Ich denke, sie haben ein gute Lösung gefunden.‘ Sch.: ‚Für die Polen ist das ganz gut, nicht?‘ H.: ‚Auch insgesamt, hoffe ich. Für die ist es gut, ja. Aber insgesamt wahrscheinlich auch.‘ Sch.: ‚Denn ich nehme an, daß dieser Mann ein besonderes Verständnis mitbringen wird für die Notwendigkeit einer Politik des friedlichen Ausgleichs. Das möchte ich eigentlich annehmen.‘ H.: ‚Ja, ich habe das heute Abend auch so verstanden, als man einen Kommentar gab, ich glaube, von kirchlicher Seite aus, daß Europa nicht an der Elbe aufhört.‘ Sch.: ‚Hat er das gesagt?‘ H.: ‚Der Papst nicht, aber irgendeine andere Stelle.‘ Sch.: ‚Das finde ich sehr vernünftig.‘ H.: ‚Also ich denke, daß das eine positive Entscheidung ist.‘“ (Heinrich Potthoff: „Bonn und Ost-Berlin 1969–1982“,Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 1997, Seite 441.)

Vor allem als Resümee der jüngeren Geschichte seiner Partei schreibt Hans-Jürgen Vogel: „Das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und der Sozialdemokratie war bekanntlich bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts hinein sehr distanziert, ja kontrovers. Das hat sich erst mit der Verabschiedung des Godesberger Programms im Jahre 1959 und mit den Beschlüssen des Zweiten Vatikanums grundlegend verändert“ (Seite 177). Die innere Beziehung von SPD-Parteivorsitz bei Hans-Jochen mit katholischem Wohlverhalten und Befinden ist nicht Einzelfall der SPD-Geschichte geblieben. Kurzzeitig erreichte das auch Wolfgang Thierse, dabei mit dem erweiterten Bestreben, aus seinen persönlichen, engen Erfahrungen in der DDR eine Legitimation für mehr Religiosität im politischen Leben der vereinigten Republik abzuleiten; gleich noch über den Parteirand hinaus. So im Interview mit der Süddeutschen vom 22. September 2011 anlässlich des von ihm favorisierten Auftritts von Papst Benedikt XVI. im Bundestag, in Erwiderung auf die im Vorfeld verbreitete Forderung, Religion als Privatsache zu behandeln: „Das kenne ich aus der DDR. Dieser Staat hat eine atheistische Weltanschauung vertreten und Religion aus der Öffentlichkeit verbannt. […] Ich sage nur, daß das DDR-Regime eine konsequente Entkirchlichung der Menschen erzeugt hat, bis hin zu Unkenntnis, Vorurteilen und schroffster Ablehnung.“

Auf diese Wertung fixiert, hat der zeitweilige Bundestagspräsident offenbar nicht zur Kenntnis genommen, dass die Abkehr von den Amtskirchen nicht nur eine Folge der anti-kirchlichen Ideologie in den ehemals sozialistischen Staaten ist. Zumal die DDR noch der positive Sonderfall mit ihren Bemühungen zur gleichberechtigten Integration der 1.040 000 katholischen Staatsbürger mit 1038 Seelsorgestellen und 1340 Priestern unterschiedlicher Position in die Gesellschaft war. Und für den Vatikan mit dem Papsttum als Zentrum der Weltkirche war die DDR zu keiner Zeit eine ernstliche Gefahren-Baustelle im Vergleich zu anderen Staaten, nicht nur solchen des Ostblocks. So beschrieben ehemals leitende Mitarbeiter der Kirchenabteilung des MfS das Verhältnis von Staat und katholischer Kirche: „Die katholische Kirche in der DDR bestimmte ihre Position einerseits als Minderheitskirche, andererseits mit der Gelassenheit einer Institution, die auf eine Geschichte von fast zweitausend Jahren zurückblickt. Ihre weitgehend apolitische, allein dem kirchlichen Auftrag verpflichtete Haltung ermöglichte es ihr, größtmögliche Distanz zum sozialistischen Staat zu halten, aber gleichzeitig ihre Strukturen und ihre innere Geschlossenheit zu behaupten“ (mfs-insider.de; auch in: Deutschland-Archiv 4/94).

Bernhard Vogel hat den direkten Weg als Protagonist für das katholische Fundament der Bundesrepublik in und mit der CDU genommen; auch als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz (1976–1988) und als Ministerpräsident von Thüringen (1992–2003), stets zugleich mit wissenschaftlichen Ambitionen. Weniger bekannt ist seine vorgelagerte Funktion als Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) zwischen 1972 und 1976. Das ist der Dachverband der organisierten Laiengemeinschaften im Vorfeld der katholischen Kirche und ihrer Gemeinden; dazu und nicht unbedeutend die etwa 60 gewählten Einzelmitglieder des etwa 230 Personen fassenden ZdK. So sind beispielhaft gegenwärtig dabei: Der Nachfolger von Vogel als MP von Thüringen, Dieter Althaus; der amtierende MP von Sachsen-Anhalt, Rainer Haseloff und seine Kollegin Malu Dreyer, wie auch MP-Kollege Winfried Kretschmann; die Minister Kramp-Karrenbauer, Julia Klöckner, Gerd Müller, Monika Grütters, jetzt ohne besonderes Parteiamt Andrea Nahles sowie Wolfgang Thierse.

Die Zeit seiner Präsidentschaft war die der Auseinandersetzung in der BRD mit der Brandtschen Ostpolitik, einschließlich der Vertragspolitik mit der DDR, als Grundlage für eine Politik der europäischen Sicherheit und Zusammenarbeit, für die Normalisierung der staatlichen Beziehungen des Heiligen Stuhls zur Sowjetunion und zu den anderen Staaten des Ostblocks. Welche Signale, Irritationen und materielle Konzeptionen kamen aus diesem Kreis, auch über die Parteizugehörigkeit und deren Ambitionen hinaus? Wie waren die Verflechtungen mit den Vertriebenenverbänden, die – auch in kirchlichen Verbänden organisiert – gemäß klerikaler Leitlinien wirkten?

Als Beispiel für die glücklosen Rückzugsgefechte von nationalistischen Positionen mag hier das Zitat aus dem ironisierenden Kommentar der Zeit vom 30. Mai 1975 dienen: „Falls der Papst das ‚Neueste‘ noch nicht wußte, von Bernhard Vogel, dem Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, ist er seit kurzem belehrt: Die Kommunisten haben es langfristig auf Beseitigung der Religion abgesehen‘, weswegen der Vatikan ‚Ziele und Wege‘ seiner Ostpolitik überprüfen müsse.“ Genau das hatte der Vatikan langfristig mit sechs wechselnden Päpsten getan. Im Verständnis von Bernhard Vogel geschah das jedoch mit verheerenden Ergebnissen, die es abzuwehren galt: „Für das Gebiet der DDR wurde die Ernennung von päpstlichen Administratoren und die Errichtung von Administraturen – für die zu westdeutschen Diözesen gehörenden Jurisdiktionsbezirke – erwogen. Eine eigene nationale Bischofskonferenz sollte entstehen. Ja sogar die Entsendung eines Nuntius nach Ost-Berlin kam ins Gespräch. Das wollte weder die Deutsche Bischofskonferenz noch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hinnehmen. Es kam zu einer erbitterten öffentlichen Auseinandersetzung. Wir setzten Himmel und Erde in Bewegung, entwickelten vielfältige Aktivitäten und organisierten massiven Widerstand gegen die tatsächlichen oder auch nur für möglich gehaltenen vatikanischen Pläne, die nach unserer Überzeugung auf die Anerkennung der Spaltung Deutschlands hinausliefen“ (Seiten 167/168). Mit unverhohlener nochmals nachträglicher Zustimmung zitiert er den damaligen außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Alois Mertes, dass es sich beim Papst um „volle Irrtumsfähigkeit“ in politischen Fragen handelt. Und noch in der Gegenwart sein Bekenntnis: „Ich hatte 1994 (als MP von Thüringen – H.B.) kein schlechtes Gewissen hinsichtlich meines Verhaltens 1973.“

Der Hintergrund für die Differenzen zwischen der Führung der katholischen Kirche und bei den Vertriebenenverbänden mit katholischer Basis in der BRD, bis hin zur Unbotmäßigkeit gegenüber dem Vatikan und den Päpsten, hat seine Ursache in der Bewertung des Sieges der Alliierten über Deutschland. Dazu gehörte deren Einigung über die „polnische Frage“ bei der Krimkonferenz (4.–11. Februar 1945), was zunächst die künftige Ostgrenze Polens betraf. Die sollte wieder der – nach dem seinerzeitigen britischen Außenminister Lord Curzon benannten – am 8. Dezember 1919 als ursprüngliche Ostgrenze Polens festgelegten Linie entsprechen. Dem stimmten die Siegermächte auch mit der Konsequenz aus Stalins Satz zu, dass ein starkes Polen im Westen „auf Kosten Deutschlands“ entschädigt werden müsse.

Das war Diktat der Sieger mit ihrer hinreichenden Begründung, dass diese weitreichende Entscheidung von ganz Deutschland als Bestrafung und als künftige Sicherung der Nachbarn vor einer Wiederholung der Aggression zu ertragen wäre. Die DDR hatte mit Polen in dem völkerrechtlich verbindlichen „Görlitzer Abkommen“ vom 6. Juli 1950 diese Wirklichkeit rechtlich realisiert, worin die Oder-Neiße-Linie als „Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen“ definiert ist. Das Echo von der bundesdeutschen Politik auf den Sachverhalt und die Anerkennung durch die DDR: Damit finden wir uns nie ab. So, wie die Staatsgrenze zwischen DDR und BRD als „Demarkationslinie“ bezeichnet und behandelt wurde, geschah das auch mit der polnischen Westgrenze – ein Status also, der reversibel ist und in diesem Zustand gehalten wird. Das war bundesdeutsche Staatsdoktrin mit Duldung der deutschen katholischen Kirche und ihrer Vorfeldorganisationen zumindest bis zu dem Vertrag zwischen BRD und Polen in Verbindung mit dem Moskauer Vertrag und, zeitlich verzögert, auch dem Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR. Die nachgeholte „Anerkennung“ der Grenzziehung durch ganz Deutschland erfolgte erst als zu erfüllende Bedingung vor der internationalen Zustimmung zur deutschen Einheit.

Der Vatikan hingegen nahm für seine weltpolitische Praxis spätestens nach der Konferenz von Helsinki die Position als staatlich günstige Vermittlungsmacht an, nicht weiter oder hauptsächlich in Wertegemeinschaften und Bündnissen zu agieren, sondern, mit dem Papst als höchstem Organ der Weltkirche, über den Parteien zu stehen, nicht als Unterstützer der Kräfte, die sich die erneute Veränderung der Staatsgrenzen offen halten wollten. In einer geheimen Personenauskunft des MfS vom 20. April 1979 über den neuen Papst heißt es daher, er sei „zwar ein Antikommunist, aber in erster Linie ein Pole“ (zitiert von Bernd Schäfer: Der Vatikan in der DDR-Außenpolitik (1962–1989), in: Die DDR und der Westen, Ch.Links-Verlag, Berlin 2001, Seite 268). So hatten das auch Schmidt und Honecker gesehen.

Als der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker am 24 April 1985 zum Gegenbesuch beim italienischen Ministerpräsidenten Craxi nach Rom kam und am 24. April 1985 zu Audienz und Gespräch mit eben diesem Papst geladen war, konnte Die Zeit vom 26. April aus dem Vatikan auf befriedigende Hintergründe verweisen, die die Visite für beide ermöglichten: „Der DDR-Staatsratsvorsitzende reist zum ersten Mal in ein NATO-Land – und zum Papst“, und weiter: „Der Papst hatte schon deshalb nichts gegen ein absolutes Zwiegespräch, weil es keine schwer wiegende Kirchenprobleme mit der DDR zu bereden gab. In keinem anderen Ostblockstaat ist die katholische Kirche administrativ so unbehelligt, kann der Vatikan so beliebig Bischöfe ernennen. […] Deshalb brauchte der Vatikan auch die Berliner Bischofskonferenz und ihren Kardinal vor dem Honecker-Besuch nicht besonders zu konsultieren.“ Besucher und Gastgeber wussten überdies gemeinsam festzustellen, dass es „zum Weg des Dialogs und der friedlichen Zusammenarbeit keine reale Alternative gibt“. Im September 1985 hatte Hans-Jochen Vogel als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion ein zweites Mal eine Begegnung mit Johannes Paul II. und weiß zu berichten: „Die Gesprächsführung überließ er weitgehend dem Besucher, dem er aufmerksam zuhörte. Er ließ aber zu den angesprochenen Themen jeweils auch seine Meinung erkennen und reagierte bisweilen spontan. […] Hingegen schwieg er bewußt auf meine Frage, wie Erich Honecker, den er kurz zuvor empfangen hatte, auf ihn gewirkt habe“ (Seite 178).

Für die Unzufriedenheit der meisten deutschen Bischöfe und bundesdeutschen Politiker ob ihrer Fehleinschätzung der Gesamtlage im Vatikan und auch der Persönlichkeit des Papstes spricht das spätere Eingeständnis von Kardinal Meisner, Vorsitzender der Berliner Bischofskonferenz in der DDR. Er hatte im Vorfeld der Audienz vergeblich versucht, dies zu verhindern. „Angeblich hatte Meisner dem Papst nahe gelegt, sich zum Zeitpunkt des Honecker-Besuches in Rom nicht in der Stadt, sondern in seiner Sommerresidenz Castel Gandolfo aufzuhalten, um so eine Audienz vermeiden zu können. Der Papst habe jedoch darauf geantwortet, einen solchen bewußten Schritt hätten seine Vorgänger nur einmal praktiziert, nämlich Pius XI. im Mai 1938, um einer Audienz für Adolf Hitler aus dem Wege zu gehen. […] Im Falle von Erich Honecker sei eine vergleichbare Präzedenz jedoch nicht gegeben“ (Auskunft von Kardinal Meisner an Schäfer, zitiert a.a.O., Seite 269). Ein Hauptergebnis als Folge der Begegnung: Für Mitte der Jahre 1990 oder 1991 wurde die Gegeneinladung des Papstes zu einem Katholikentreffen mit offiziellem Staatsbesuch in Berlin vorgesehen. Ab 1987 begannen substanzielle inhaltliche und organisatorische Vorbereitungen auf verschiedenen Ebenen. Für beide Seiten gab es sehr konkrete Erfahrungen mit dem Verlauf des Papstbesuchs in Polen vom 8. bis zum 14. Juni 1987. Die MfS- Operativgruppe Warschau und die DDR-Botschaft lieferten kontinuierlich Unterlagen und Gesprächsergebnisse zur Beantwortung der Grundfrage, ob es sich beim Besuch und den Nachwirkungen mehr um die Förderung der gesellschaftlichen Opposition oder um die Stabilisierung katholischer Positionen in der gefestigten Volksrepublik Polen gehandelt habe.

Das Geschehen um das Ende der DDR und insbesondere die Aktionen und Reaktionen der Bundesrepublik dabei waren nochmals Anlass für eine kirchliche Initiative zur Aktualisierung des Papstbesuchs in der DDR. Der für Verhandlungen der katholischen Kirche mit den DDR-Behörden zuständige Prälat Lange teilte am 24. November 1989 seinen Gesprächspartnern im Staatssekretariat für Kirchenfragen offiziell mit: „Wenn es der Stabilität der DDR und auch der Autorität des Staatsratsvorsitzen dienlich wäre, gäbe es die Bereitschaft, einen Papstbesuch in der DDR noch vor dem geplanten Besuch in Ungarn und Kuba, also noch 1990, zu organisieren. Man müsse dem Papst nur ein entsprechendes Signal geben“ (z.T. zitiert von Egon Krenz in „ Der 9. November 1989 – Geschichte, Verlauf und Folgen“, Vortrag zum 25. Jubiläum der Grenzöffnung am 9. November 1989 in Groningen am 3. November 2014 und vollständig bei Bernd Schäfer a.a.O., Seite 271). Dies Angebot ist hinsichtlich seiner Verbindlichkeit und Motivation nicht mehr analysiert oder beantwortet, auch kaum in der Literatur erörtert worden. Ein letzter Versuch bei der DDR-Führung ist als Position von Egon Krenz auf der Liste der vordringlichen Maßnahmen nachgewiesen: „Zügiger sollte Treffen mit Papst geprüft werden (er will doch in die DDR kommen!)“ (zitiert in: Cerny-Werner: „Vatikanische Ostpolitik und die DDR“, V&R unipress in Göttingen 2011, Seite 324). Diese Information ist die offen zugängliche „Schlußakte“ der Beziehungen des Heiligen Stuhls und der römisch-katholischen Weltkirche gegenüber und mit der DDR.

Bernhard Vogel / Hans-Jochen Vogel: Deutschland aus der Vogelperspektive – Eine kleine Geschichte der Bundesrepublik, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2020, 349 Seiten, 20,00 Euro.