Doch, es gibt sie: die richtigen China-Bücher. In denen es wirklich um China geht und nicht um westliches Konflikt- und Bedrohungsgetöse, Dämonisierungsgelüst und Besserwisserei. Daniel Leese, Sinologieprofessor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, hat so ein Buch vorgelegt. Maos langer Schatten ist es betitelt, aber auf diese Marketingzeile reduziert sich’s nicht, es gibt einen Untertitel, und der heißt Chinas Umgang mit der Vergangenheit, und dieser wird auf 600 Seiten dargestellt als tiefgreifender, wahrlich atemberaubender Prozess in einer von Menschen gebildeten und gemachten – und nicht, wie es das westliche Chinabild so oft nahelegt, irgendwie „vermonsterten“ – Gesellschaft.
Mit Leeses Buch rückt China näher. Für die Älteren, die an die im Buch in Rede stehende Periode mit „Großer Proletarischer Kulturrevolution“ (1966–1976) und erster (1976–1978) und zweiter (1976–1989) Phase des Reformkurses eigene Erinnerungen haben, sowieso. Bestimmt aber auch für die Jüngeren, die spüren, dass es mit China, der aufstrebenden Weltmacht, in der ein Fünftel der Weltbevölkerung lebt, mehr auf sich haben muss als nur das, was mit Schlagworten wie Parteidiktatur, Absatzmarkt, Huawei oder Tiktok durch die Medien flirrt.
Es gibt – schreibt Leese – „wohl kaum einen Staat, der sich im unmittelbaren Gefolge eines politischen Führungswechsels intensiver und großflächiger mit Fragen historischen Unrechts beschäftigt hat als die Volksrepublik China zwischen 1976 und 1987“. Was für ein Satz. Über Geschichtsarbeit im Großversuch.
Der Darstellung dieses Prozesses ist eine Chronik beigegeben, die neben den allseits bekannten Eckdaten – 9.9.1976 Tod Mao Zedongs; Dezember 1978 3. Plenum des 11. Zentralkomitees der KPCh, Aufstieg Deng Xiaopings; April-Juni 1989 landesweite Proteste für politische Reformen; 4.6.1989 deren gewaltsame Niederschlagung (Tian’anmen-Ereignisse) – auch auf jene Prozesse aufmerksam macht, ohne die die Breite und die Dramatik der geistig-kulturellen und politischen Auseinandersetzungen nicht verständlich wird. So ist es – wie Leese aufzeigt – eben nicht zufällig, dass die Proteste des Jahres 1989 mit spontanen Trauerkundgebungen für den am 15. April verstorbenen, 1980 ins Amt gewählten und 1987 gestürzten Generalsekretär der Partei Hu Yaobang – eines, das sei eingefügt, Mitstreiters übrigens von Erich Honecker im Weltbund der Demokratischen Jugend in den 1950er Jahren, wie sich beide bei Honeckers China-Besuch 1986 bestätigten – begannen. Hu hatte bereits im März 1977 das zwar parteiinterne, aber große Verbreitung erlangende Mitteilungsblatt Lilun dongtai (Theorie-Tendenzen) gegründet und damit ein so noch nie gehabtes Forum zur Debatte über die Kulturrevolution geschaffen. Wenn dann im Jahre 1980 eine Konferenz von 4000 Funktionärinnen und Funktionären zur Beratung einer Geschichtsresolution stattfinden konnte, die im Juni 1981 nach weiteren Diskussionen vom ZK beschlossen wurde, so hatte Lilun dongtai daran einen entscheidenden Anteil.
Leese nimmt neben der Ebene der Machtkämpfe in der Parteispitze immer auch Motivationen, Interessenlagen und Stimmungen in der Partei und in der Gesellschaft insgesamt in den Blick. Dabei leitet ihn die Einschätzung, dass es nach der Kulturrevolution mit ihrer „direkten oder indirekten Verfolgung von über 100 Millionen Personen“ keineswegs ausgemacht gewesen sei, dass es der KPCh gelingen würde, „die eigene Macht und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu wahren“. Eine „Spaltung der Partei“, ein „Putsch des Militärs“ oder „andere staatliche Zerfallserscheinungen“ seien „durchaus denkbare Entwicklungsszenarien“ gewesen, und vor diesem Hintergrund werde deutlich, dass es zu einfach sei, die heutigen Erfolge der KPCh nur im 1978 eingeleiteten „Wirtschaftswunder“ zu sehen. Nein, dieses „Wunder“ habe eine Verankerung gebraucht in der „Klärung fundamentaler Fragen im Umgang mit der eigenen Vergangenheit“, und dies sei dann auch geschehen, und zwar gleichzeitig auf ideologischer, administrativer und gerichtlicher Ebene. So seien von Parteiorganen und Gerichten „Millionen von politischen Urteilen und juristischen Urteilen revidiert, Opfer von Massenkampagnen rehabilitiert und Hunderttausende Täter überprüft“ worden; „Dutzende von Millionen Menschen“ hätten „von einer staatlichen Wiedergutmachungspolitik profitiert“.
Aber dies alles – Leese arbeitet es ausführlich heraus – war selbstverständlich voller Widersprüche. So habe Deng Xiaoping in einer „zu intensiven Beschäftigung mit der Vergangenheit“ immer auch „Gefahren“ gesehen und daher für einen baldigen „Schlussstrich“ plädiert, um „alle gesellschaftlichen Kräfte auf das Projekt einer sozialistischen Modernisierung zu fokussieren“; Hu Yaobang hingegen habe es bei solcherart „zweckrationaler Logik“ nicht belassen wollen, seine Ablösung ist daher ein Sinnbild für das „Ende des Versuchs, aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit neue Formen politischer Legitimation abzuleiten“.
Die Vertracktheit der Frage nach der Bewertung Mao Zedongs in der Geschichte illustriert Leese unter anderem mit einer Aussage der Mao-Witwe Jiang Qing auf dem in weiten Teilen öffentlich übertragenen Gerichtsprozess gegen die kulturrevolutionäre „Viererbande“ und Anhänger Lin Biaos von November 1980 bis Januar 1981. Jiang – selbst zur „Viererbande“ gehörend – habe darauf bestanden, in ihrem Handeln einem „Hunde“ gleich „nur die Befehle ihres Herrn befolgt“ zu haben, weshalb das Tribunal wohl „eigentlich über ihren verstorbenen Mann zu Gericht“ sitze.
Die aktuellen Entwicklungen in China betreffend meint Leese, dass sie den Beweis dafür lieferten, dass 1989 die Chance einer tatsächlich fundamentalen politischen Erneuerung verpasst worden sei. Xi Jinping knüpfe heute „bewusst an Elemente maoistischer Herrschaftstechniken“ an, setze „wie Mao verstärkt auf die gezielte Steuerung von Massenemotion und auf die Bedeutung eines Glaubens an die ‚historische Mission‘ der Partei, das Land zu Reichtum und Wohlstand zu führen“. Was nun im Angesicht des offensichtlichen Erfolges dieses Kurses für das Land und seinen Platz in der Welt die genaue Gestalt der von ihm gemeinten Erneuerung sein soll, lässt Leese offen. Einen kritisch vergleichenden Blick in die Welt unterlässt er leider nicht nur an dieser Stelle, sondern viel zu oft im ansonsten sehr empfehlenswerten Buch.
Nachzutragen bleibt noch ein Winziges: Im Frühjahr 1990 erschien im Dietz Verlag Berlin ein Buch mit dem Titel „Die Volksrepublik China 1979–1989. Eine kommentierte Chronik“. Dort ist vieles von dem, was Leese heute anbietet, bereits nachzulesen. Aber schade: Ins umfangreiche Literaturverzeichnis hat es dieser Beitrag des DDR-Teils der deutschen Chinaforschung, der seine ganz eigenen Grundlagen und Gründe der Auseinandersetzung mit den chinesischen Entwicklungen hatte, trotzdem nicht geschafft.
Daniel Leese: Maos Langer Schatten. Chinas Umgang mit der Vergangenheit, Verlag C.H. Beck, München 2020, 606 Seiten, 38,00 Euro.
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