Wer kennt es noch, dieses Gesicht der damals Achtzigjährigen, ruhig und konzentriert, unter dem schlohweißen Haar, immer widerspenstiger, je älter sie wird? Ihre Augen sind still, fast starr, sie wirken, als stünden sie schräg. Sie sieht blicklos vor sich hin, durch den Betrachter hindurch, gänzlich abwesend und zugleich wieder voll innerer Spannung, zweifelnd, forschend und den Gegenüber kritisch prüfend. Die Stirnfalten geschwungen und parallel, die Falten zu den Mundwinkeln fast eingeschnitten. In dem Dichterinnenantlitz drängen Gefühle nicht nach außen, es fehlt ihm vor allem Mitteilsamkeit. Eigensinnig stößt die Stirn mit den ausgeprägten Brauen vor, die Oberlider verhängen die ohnehin überschatteten Augen, und nun erweist sich auch der melancholisch weiche, sensible Mund als unmutig, auch unerbittlich. Der lauschende Ausdruck einer Träumenden wandelt sich jetzt in den einer streng und gerecht Richtenden.
Oder aber herzhaft lachend, mit dem ganzen Gesicht, der Mund ist geöffnet, alle Falten und Fältchen sind aufgesprungen und steigen unaufhaltsam, gleichsam ohne optischen Stützpunkt, nach oben. Wenn sie leise lächelt, sieht sie jugendlich verschmitzt aus und sehr listig, in die Augen tritt ein irisierender Glanz und ein Funkeln. Und dennoch ist der Frauenkopf ganz Ruhe, sinnende und nachgerade hintergründige Heiterkeit. Alle Falten sind so sanft geführt, dass sie niemals zu plötzlichem Richtungswechsel auffordern. Aber immer zeichnen die Linien von dem leicht geöffneten Mund bis zu den Halspartien abwärts die Dunkelheiten und Angst des Lebens und der Kunst, so wie auch das erzählerische Werk die Verletzungen, die die Autorin im zermürbenden Leben und Schaffen davongetragen hat, als offene Wunde stehen lässt.
Wer sich in die Landschaft des Dichterantlitzes einstimmt, das zunächst, im sicheren Schutz der „ästhetischen Grenze“, kaum Anhalte für einen Kontakt zu bieten scheint, erfährt bald die Identität des einzelnen mit dem Ganzen, von Physiognomie mit menschlicher und künstlerischer Darstellungsweise.
Und viele von uns kennen auch noch diese Stimme, die spricht oder vorliest: der eigenartigen „Suggestivkraft dieses Tonfalls und dieser Haltung“ (Christa Wolf) konnte sich niemand entziehen. Dem mainzerischen Akzent, der sich über Jahrzehnte erhalten hatte. Dem leisen, wie monotonen Vortrag, der die karge, knappe Prosa genau skandierte. Man behält nicht nur die Stimme im Gedächtnis, man liest unwillkürlich auch selbst jeden Text der Seghers, wie sie ihn gelesen hat.
Beim Lesen der Romane und Erzählungen der Anna Seghers stellt sich bald die untrügliche Gewissheit ein, etwas Kostbares, Unersetzliches, menschlich Verschwiegenes anvertraut zu bekommen. Es geht der Autorin um die Ausstattung des Lesers mit Zuversicht und Selbstvertrauen, um die Ausbildung von Menschlichkeit, Solidarität und politischer Überzeugungstreue, um den Verweis auf die Lösbarkeit der menschlichen Probleme durch den Menschen. Sie erkundet ebenso im Alltäglichen das Sinnfällige des Lebens, wie sie uns den Weltzustand als Resultante des Handelns der Menschen begreifen lässt. Wir werden an Schauplätze geführt, wo wir Siege und Niederlagen als ganz persönliche Aufschwünge und Verzweiflungen von Menschen, als Bewährung und Versagen, Hoffnungen und Enttäuschungen, Glück und Schmerz miterleben. Das von ihr Erzählte soll emotionale Bewegung, Betroffenheit und Erschütterung hervorrufen, aber sie überlässt den Leser nicht der Verwirrung, der Rat- und Ausweglosigkeit, sondern weist ihm eine bestimmte Richtung im Prozess der Erkenntnis und Selbsterkenntnis. In der 1972 geschriebenen „Reisebegegnung“ lässt sie E.T.A. Hoffmann zu Kafka sagen, dass man selbst in der Darstellung der düstersten, ausweglosesten Wirklichkeit „ein Lichtpünktchen aufglänzen sehen müsse“.
Anna Seghers ist Vorgang und Sinn des Erzählens wohl niemals problematisch geworden. „Denn abgeschlossen ist, was erzählt ist“, heißt es in dem 1941 und 1942 im mexikanischen Exil geschriebenen Roman „Transit“, der autobiographische Elemente enthält. Erzählbar aber wird etwas, wenn es unmittelbar erlebt und danach noch einmal geistig und weltanschaulich durchdrungen, wenn es in seinen Zusammenhängen erkannt und historisch bewertet wird, wenn es gelingt, den gewählten Wirklichkeitsausschnitt von den unmittelbaren Beziehungen zwischen den Menschen her aufzuschließen, poetisch durchsichtig und überschaubar zu machen. Erst dann wird die Wirklichkeit überwunden, also erzählbar, vom Leser in ihrem Wesen erfassbar und beherrschbar.
Erzählen im Sinne von Selbstkundgabe, ja Selbstpreisgabe hat auch mit Vertrauen dem anderen gegenüber, dem man sich anvertraut, zu tun. Das Lob des Erzählens wird als eine lebensnotwendige menschliche Eigenschaft verkündet, die sich erst Geltung verschafft, wenn die Menschen einander vertrauen können. Erzählen, vertrauen, sich gegenseitige Hilfe leisten – das sind nur Schritte des einheitlichen Erzähl- und Rezeptionsvorganges bei Anna Seghers.
Auf den Tellern und Krügen des mexikanischen Töpfers Benito Guertero schillert faszinierend das tiefe, unnachahmliche Blau, das er nicht nur erträumte, ersehnte, erhoffte, sondern in den Schutthalden entdeckte und ihnen entriss. Benito erfährt auf seiner Suche nach dem „Wirklichen Blau“ (1967), die ihn durch ganz Mexiko führt, wie er seinen eigenen Weg nicht ohne die anderen machen kann, wie aber jeder andere sich selbst behaupten muss. So erweitert er seine Beziehungen zur Welt und lernt seine Beziehungen zur eigenen Arbeit besser begreifen. Das Eigene, ihm Eigentümliche wird ihm in dem Maße bewusst, wie er vergleichen kann und den Anteil anderer an diesem Eigenen erfährt. Die unauffällige Schönheit des Töpferblaus, des täglichen Gebrauchsgegenstandes einfacher Leute, wird den vielen ein Zeichen von der Schöpferkraft des einzelnen, gleichzeitig vom kollektiven Anteil daran; sie bereichert unauffällig die Gemeinschaft. Darin hinterlässt der Mensch seine Spuren.
Anna Seghers urteilt scheinbar über keine ihrer Figuren, sie lässt jede ihrer Art gemäß handeln, sprechen und fühlen, und erst das Geflecht von Tat und Folge, Denken und Handeln, von Haltungen, Entwicklungen, Bewährungen spricht das Urteil. Ihr Credo hat sie in den bekannten Sätzen am Schluss des „Siebten Kreuzes“ (1942) formuliert, die davon zeugen, dass es im Innersten des Menschen etwas gibt, was unangreifbar und unverletzbar ist. Diese Kraft im Menschen, die, so heißt es anderer Stelle des Buches, plötzlich ins Maßlose und Unberechenbare wachsen kann, ist in ihren frühesten Erzählungen ebenso gegenwärtig wie in ihren spätesten. Über ein halbes Jahrhundert blieb diese Auffassung, bei allen Variierungen im Einzelnen im Kern doch unverändert.
Wie man aus ihren Büchern weiß, galt ihre besondere Aufmerksamkeit von früh an jenen gewöhnlichen Menschen, die das Ungewöhnliche ihres Tuns als das Selbstverständliche nehmen, jenen namenlosen Vorkämpfern geschichtlicher Bewegungen, denen niemals ein Denkmal gesetzt wurde. Für sie gehört es mit zum Amt des Schriftstellers, Sorge zu tragen, dass deren Ideen und Taten nicht spurlos im Strom der Geschichte untergehen. Sie, diese kraftvoll Schwachen und besiegt Siegreichen, sind Menschen, die sich nur mühsam zu artikulieren vermögen, deren Kraft sich spontan entfaltet und keineswegs immer zur Bewusstheit erhebt, die sich aber mit fast traumwandlerischer Sicherheit in Einklang mit dem Geschichtsprozess setzen und ihn nach Kräften befördern.
Nun hat der Schriftsteller Franz Fühmann einmal die Autorin als große Mythenerzählerin bezeichnet, und diese Feststellung scheint zu der uns gewohnten Auffassung von der unbestechlichen Chronistin einer ganzen Epoche in merkwürdigem Widerspruch zu stehen. In der „Reisebegegnung“ nimmt sich Anna Seghers die Freiheit, mit E.T.A. Hoffmann, Gogol und Kafka drei Künstler, deren Lebenszeit und -raum weit auseinander liegen, in Prag an einen Tisch zu bringen. Auf diese Weise versucht sie, wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer Schaffensprinzipien zu erhellen. Ohne ihrer Zeit zu entgehen, springen alle drei Künstler von der Wirklichkeit ins Phantastische. „Gewiss“, lässt die Erzählerin Kafka sagen, „jeder von uns muss wahr über das wirkliche Leben schreiben. Die Schwierigkeit liegt darin, dass jeder etwas anderes unter ‚wahr‘ und unter ‚wirklich‘ versteht. Die meisten verstehen darunter nur das Derb-Wirkliche. Das Sichtbare und das Greifbare. Sobald die Wirklichkeit in Geträumtes übergeht, und Träume gehören zweifellos zur Wirklichkeit, …verstehen die Leser nicht viel“. Es war von je her legitime Möglichkeit realistischer Literatur, wirkliches Geschehen ins Traumhafte zu transponieren, um eben in dieser Entfernung aus dem Wirklichen eine größere Deutlichkeit und Durchsichtigkeit von Realität zu erreichen. So repräsentiert das Werk der Seghers nicht nur das „Derb-Wirkliche“, sondern verbindet sich immer auch mit jenem „Geträumten“, mit jener Welt, zu der auch „Vorahnungen, Ängste und Hoffnungen“ gehören und in der es dem Autor mitunter gelingt, „etwas zu erfinden, was das Leben selbst noch nicht verwirklicht hat“, die Vorwegnahme von Zukünftigem.
Was fehlte uns, wenn wir Anna Seghers nicht kennen würden? Viel. Ungeheuer viel.
Schlagwörter: Anna Seghers, Exil, Klaus Hammer, Mythenerzählerin, Romane und Erzählungen