23. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2020

Der Sonderermittler

von Gerhard Jaap

Der sächsische Kabarettist und Erfinder des Wortes „Ostalgie“ Uwe Steimle blickte kürzlich in die Vergangenheit zurück und meinte: „Wir haben die DDR erlebt, wir bestimmen, wie es gewesen ist. Und wie wir heute sind.“ Ein Satz, dessen Inhalt die sogenannten ewigen „Sieger der Geschichte“ vollkommen anders sehen werden.

Hans Becker, Diplomkriminalist und Oberstleutnant a. D., wäre aber mit dieser Aussage voll einverstanden. Er hat jetzt ein Buch vorgelegt, das „Der Sonderermittler“ heißt und in dem er von seiner Tätigkeit als Kriminalist in den Diensten des MfS berichtet. Wer seine Lebenserinnerungen liest, sieht die Arbeit jener Leute, die sich um die Sicherheit ihres Landes kümmerten, vielleicht in einem ganz anderen Licht.

„Natürlich kann man es sich auch einfach machen, wie heute vielerorts üblich“, schreibt Remo Kroll in seinem Vorwort. „Der Mann hat beim MfS, heute meist nur Stasi, gearbeitet, und damit ist automatisch alles falsch und verdammenswert. So einfach ist die Geschichte dann wohl nur für Bild-Konsumenten. Differenzierter betrachtet hat der Mann eine wichtige Aufgabe in einer eben auch nicht einfachen Zeit gehabt.“ Als ehemaliger Kriminalist der Volkspolizei in der Bezirksdirektion der Volkspolizei Halle, wo er in der Morduntersuchungskommission arbeitete, und späterer Leiter des Referates I der Hauptabteilung IX/7 des Ministeriums für Staatssicherheit gehörte er zu den erfahrensten Kriminalisten der DDR.

Dr. Erardo C. Rautenberg (1953–2018), damals Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg, schrieb 2011, dass der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung aus dem Jahr 1994 als „allgemeinkundig“ bezeichnet hat, „dass Richter der DDR, zumal in den letzten Jahren, bei der Aburteilung von Taten der gewöhnlichen Kriminalität, insbesondere von Kapitaldelikten, eine Tätigkeit entfaltet haben, die mit dem Wirken von Richtern in der Bundesrepublik Deutschland insofern vergleichbar war, als unter den gegebenen Bedingungen die Verwirklichung von Gerechtigkeit angestrebt wurde“. Auch hätten „die Staatsanwälte der DDR bei der Ahndung gewöhnlicher Kriminalität mitgewirkt und damit zum Schutz der Menschen vor solcher Kriminalität beigetragen“. Und der aus westlichen Landesteilen stammende Rautenberg ist der Meinung, „dass Kriminalisten, Staatsanwälte und Richter in der DDR nicht nur politisch agiert, sondern auch anerkennenswerte Strafverfolgung betrieben haben“.

Das beweist Hans Becker mit seinem Buch. Er hat sein ganzes Berufsleben für die Sicherheit des Landes und seiner Bürger gearbeitet und berichtet nun in 49 Kapiteln aus seinem Leben. Von der frühen Kindheit über den Besuch des Lehrgangs an der Kriminalschule in Arnsdorf, von seinen ersten Dienstjahren in Halle bis zu herausragenden Kriminalfällen – nach seinem Wechsel ins Ministerium für Staatssicherheit, wo er dann, umgangssprachlich formuliert, als Chef der Mordermittlung sehr erfolgreich agierte. Die gesamte Kriminalgeschichte der DDR weht so durch seine lebendigen Berichte.

Die Liste der von ihm bearbeiteten Fälle ist lang: Die Eisenbahnkatastrophe von Langenweddingen 1967, die Knabenmorde von Eberswalde 1969 und 1971, der grausame Mord an seiner Ehefrau durch einen Personenschützer des MfS bei Wandlitz 1971, der Knabenmörder von Borgsdorf und Neubrandenburg 1983 und 1984, der sich als ein NVA-Feldwebel entpuppte.

Dazu kommen durchaus politisch gefärbte Ereignisse, in denen es um führende Vertreter der DDR ging: ein tödlicher Verkehrsunfall mit fünf Toten, unter anderem dem Ministers für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft der DDR Georg Ewald 1973, der mysteriöse Tod des DDR-Finanzministers Siegfried Böhm und seiner Ehefrau 1980 und der bewaffnete Angriff auf ein Fahrzeug der Sicherungsgruppe Honecker in Klosterfelde nördlich von Wandlitz Ende 1982. Ein Fall, der damals schon in der Westpresse als Attentat auf Erich Honecker hochgespielt wurde. Eine Legende, die sich bis heute hält.

Bezeichnend eine Episode aus seinem Buch. Hans Becker wurde nach der „Wende“ zu einer Vernehmung vorgeladen, in der man ihm bedeutete, dass er in den Akten den Sachverhalt zum Anschlag in Klosterfelde falsch dargestellt hatte. Er sollte nicht protokolliert haben, dass der Angreifer (ein gewisser E.) durch einen Personenschützer erschossen wurde. In einer zweiten Vernehmung, nun mit Rechtsanwalt, gab Hans Becker zu Protokoll: „Wenn mir heute auf Befragen mitgeteilt wird, dass die von mir erstellte Akte über die Untersuchung des Vorfalls vorhanden ist, dass die Seiten der Akte fortlaufend nummeriert sind und dass das Tatortuntersuchungsprotokoll, das Sektionsprotokoll, die Protokolle über die waffentechnischen Untersuchungen der Tatwaffe, die Protokolle der Aussagen der Einwohner von Klosterfelde, die gesehen haben, dass sich E. selbst erschoss, in der Akte vorhanden sind, empfehle ich, die Akte zu lesen und zu begreifen.“ Dann verließ der Kriminalist Hans Becker mit seinem Rechtsbeistand die wohl verdatterten neuen Ermittler, die die „Regierungskriminalität“ zu untersuchen hatten. In Wirklichkeit hatten sie aber nur einen Auftrag, nämlich mit allen Mitteln zu beweisen, dass die DDR ein Unrechtsstaat war.

Die unabhängige bundesdeutsche Justiz hatte ja nach dem politischen Willen der Kohl-Regierung, natürlich ganz rechtsstaatlich, die Aufgabe zugeteilt bekommen, das „DDR-Unrecht“ streng zu verfolgen. Sie scheiterte aber kläglich. 75.000 Ermittlungen standen 753 Urteile gegenüber, das sind 1,004 Prozent. Was für eine Blamage!

Der Fall des NVA-Feldwebels Mario Stiebitz, bei dem Hans Becker ebenfalls ermittelte, ist insofern interessant, als nach dem 3. Oktober 1990 die Verurteilung des Serienmörders nach dem Strafgesetzbuch der DDR nicht beanstandet werden konnte. Der Verurteilte hätte auch in der alten BRD wegen grausamen und heimtückischen Mordes zur Befriedigung des Geschlechtstriebes in fünf Fällen sowie versuchten Mordes in einem weiteren Fall eine lebenslange Gesamtfreiheitsstrafe zu erwarten gehabt – ergab die Prüfung des Urteils, obwohl das Ermittlungsverfahren vom MfS geführt wurde, Militärstaatsanwälte die Anklage erhoben und Militärrichter das Urteil fällten.

Der Report von Hans Becker weist ihn als verdienstvolle Person der Zeitgeschichte aus, der zu vielen herausragenden Wissenschaftlern der DDR enge Arbeitsbeziehungen pflegte. Genannt werden sollen der weltberühmte Gerichtsmediziner Prof. Dr. Otto Prokop, der ehemalige Direktor des Instituts für gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität zu Berlin, und der Gerichtspsychiater und forensische Psychologe Prof. Dr. Hans Szewczyk von der Nervenklinik der Charité. Im Fall der Eberswalder Knabenmorde erarbeitete Szewczyk das erste Täterprofil der Welt. Aber alle Welt redet nur davon, dass das „Profiling“ in den USA vom FBI erfunden wurde. Selbst solche Leute, die es besser wissen müssten, plappern diesen Unsinn nach. Aber das gehört eben auch zur „Aufarbeitung der DDR-Geschichte“.

Hans Becker ist zu danken, dass er den unvoreingenommenen Leser zu neuen Einsichten verholfen hat. Manchen Geschichten fehlt es ein wenig an Tiefe. Das aber schmälert nicht das Verdienst des Autors, es so aufzuschreiben, wie es wirklich war. Er hat in seinem Verantwortungsbereich eine anerkennenswerte Strafverfolgung betrieben. Neudeutsch: Chapeau!

Hans Becker: Der Sonderermittler. Als Kriminalist in Diensten des MfS, edition berolina, Berlin 2020, 345 Seiten, 19,99 Euro.