23. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2020

Der Doppelmord in der Pappelallee

von Frank-Rainer Schurich

Berichte über wahre Kriminalfälle sind immer Seismographen der Wirklichkeit. Sie zeigen einen Ausbruch aus dem Normalen an und geben Fingerzeige zum Zustand der Welt, der Gesellschaft – und hier der DDR. Die Umstände dieses ungewöhnlichen Verbrechens erscheinen wie Zutaten zu einem bizarren Filmplot. Und man fragt sich, wie das geschehen konnte.

Wir sind in Berlin, Hauptstadt der DDR, es ist der 4. Mai 1985, ein Samstag. Reinhard K., Jahrgang 1936 und wohnhaft in Pankow in der Thulestraße, ging um 8.30 Uhr zum Frühschoppen in die Gaststätte „Kastanieneck“, Oderberger Straße an der Ecke Kastanienallee. Er trank sein Bier und saß zunächst allein am Tisch. Am Nachbartisch sah er einen etwa 40 Jahre alten Mann, der zunächst ein Kreuzworträtsel löste und dann einschlief. Er hatte wohl zu viel getrunken, denn der Wirt brachte ihm kein Bier mehr. Nach einer guten halben Stunde kam Gerhard P. an den Tisch. Sie kannten sich aus dem gemeinsamen Strafvollzug in Magdeburg. K. war ein Dieb und P. ein verbrecherischer Betrüger. Auch das kann eine Freundschaft begründen.

Der Mann am Nachbartisch hatte ausgeschlafen und wollte gehen, aber P. sprach ihn mit „Hallo Baggerfahrer!“ an, so dass sich dieser auch zu ihnen an den Tisch begab. P. und der Baggerfahrer waren wohl einmal Arbeitskollegen. Dann erzählte der alte Bekannte eine schauerliche Geschichte. In seiner Wohnung in der Pappelallee lägen angeblich zwei Leichen. Er habe eine Frau, seine langjährige Lebenspartnerin, erwürgt, weil sie ihn andauernd tyrannisierte. Ihre Tochter kam hinzu, und er stach mit dem Messer auf sie ein, ungefähr 12 bis 14 Mal. Mit einigem Stolz bezeichnete er sich als den größten Mörder aus dem Prenzlauer Berg. Und er forderte die beiden Männer auf, sich die Sache vor Ort in der Wohnung anzusehen. Nicht weit weg, in der Pappelallee gleich vorn links.

Gegen 10 Uhr wollten K. und P., die das natürlich nicht glaubten, den Tatort besichtigen. Der Baggerfahrer hatte noch drei Bier getrunken, K. in anderthalb Stunden sechs kleine Bier und einen doppelten „Halb und Halb“, P. in einer Stunde sieben kleine Bier. Sie schwankten also kollektiv in die Pappelallee zur besagten Wohnung in die 4. Etage des Vorderhauses. Der Baggerfahrer schloss die Wohnungstür auf und sagte theatralisch: „Hier riecht es schon nach Leichen.“ Gleich links ging vom Flur ein Kinderzimmer ab, hier lag unter der Zudecke, die der Baggerfahrer kurz hochhob, ein lebloses Mädchen. Dann gingen sie ins Wohnzimmer. Im Bettkasten der Doppelliege lag eine unbekleidete tote Frau, und der Baggerfahrer sagt dramatisch: „Und hier Nummer zwei!“

K. war so schockiert, dass er die Wohnung sofort verließ. Er hielt mehrere Funkstreifenwagen an und erzählte seine wahre Geschichte, aber da er stark nach Alkohol roch und sehr konfus redete (das Wort „Leichen“ brach aus ihm erst nach einigen Anläufen heraus), glaubte man ihm nicht. Die Polizisten fuhren allesamt davon. Erst gegen 12 Uhr gelang es ihm, die Besatzung eines Polizeiautos davon zu überzeugen, den Tatort in Augenschein zu nehmen.

Die Wohnungstür in der Pappelallee musste aufgebrochen werden. Die Kriminalpolizei rückte an und untersuchte den Fundort, der zweifelsfrei auch Tatort war. Der Arzt der herbeigerufenen Schnellen Medizinischen Hilfe (SMH), konnte nur den Tod der Opfer feststellen. Dozent Dr. Helmut Waltz vom Institut für gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität zu Berlin besichtigte die Toten in der Pappelallee, die dann in das Institut zur Obduktion überführt wurden. Die Opfer: die 39-jährige Christa G., Abteilungsleiterin Produktionsökonomie im VEB Kommunale Wohnungsverwaltung Berlin-Prenzlauer Berg, und ihre Tochter Verena, 14 Jahre alt.

Schnell fiel der Verdacht auf einen Hans-Joachim U., der in der Rudolf-Seiffert-Straße in Lichtenberg wohnte, den langjährigen Lebensgefährten von Christa G. Die schnelle Verhaftung erfolgte unter „Mitwirkung der Bevölkerung“, wie es damals hieß. Reinhard K., der sich im Gaststättenmilieu dieser Gegend sehr gut auskannte, vermutete, dass sich Gerhard P. und der Baggerfahrer auf kurzem Weg in die nächste Kneipe begeben hatten, und das war nun einmal auf der derselben Straßenseite ein paar Häuser weiter die Gaststätte „Krüger“ in der Pappelallee 80. Dort konnte der Baggerfahrer, Hans-Joachim U., festgenommen werden. Gerhard P. verblieb in der Gaststätte und trank weiter. Was sollte er auch sonst tun.

Hauptmann der K Petrich von der Diensthabenden Gruppe (DHG) der Berliner Kriminalpolizei vernahm am 4. Mai 1985 von 14.30 bis 18.00 Uhr Reinhard K. als Zeuge, und danach von 19.15 bis 20.20 Uhr Gerhard P. Beide waren nach dem reichlichen Alkoholgenuss erstaunlich schnell wieder vernehmungsfähig. Gerhard P. sagte ergänzend aus, dass der Baggerfahrer die Tür der Tatwohnung wieder verschlossen hatte. Ordnung musste schließlich sein.

Gegen Hans-Joachim U. wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes eingeleitet. In seinen Vernehmungen bei der Morduntersuchungskommission betonte er mehrfach, dass er keine Kraft für eine Selbstanzeige hatte und Gerhard P. schon in der Gaststätte bat, die Polizei zu verständigen. Zum Motiv sagte er aus, dass Christa G. ihn nur noch kritisierte, egal, was er tat. Er hatte wieder einmal kräftig getrunken, und da sei er ausgerastet. „Ansammlung von Affekten, die subjektiv als Spannungs- und Unruhegefühl erlebt werden“, wird später der psychiatrische Gutachter sagen. Hans-Joachim U. soll auch davon gesprochen haben, dass er einfach nur einen Traum realisiert hatte, der ihn oft befiel, um seinen Grundkonflikt zu lösen. Er war wie im Wahn und musste auch die Tochter töten.

Hans-Joachim U. hat eine langjährige Gefängnisstrafe abgesessen und ist dann wieder in die Freiheit entlassen worden. Was aus ihm geworden ist, wissen wir nicht. Seine Taten werden ihn aber immer verfolgt und zuweilen nicht mehr losgelassen haben.