23. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2020

Beethoven-Gedenkjahr ohne Beethoven

von Ulrich Busch

Am 17. Dezember, dem Taufdatum Ludwig van Beethovens, endet mit einem Abschlusskonzert offiziell das „Beethoven-Gedenkjahr 2020“. Der Anlass dafür, dieses Jahr zum Gedenkjahr für Beethoven auszurufen, war der 250. Geburtstag des Komponisten. Kulturstaatsministerin Monika Grütters erklärte dazu Anfang des Jahres: „Beethovens Gesamtwerk steht für Werte, die auf der ganzen Welt verstanden und geteilt werden. […] Unser Jubiläumsprogramm 2020 wird Beethovenerlebnisse weit über kulturelle Grenzen hinweg bieten.“ Dies klang vielversprechend. Aber was ist von dem großartigen Programm tatsächlich umgesetzt worden, und wie viel davon ist bei den Menschen in Deutschland und in Europa letztlich angekommen?

Als jemand, der nicht in Bonn oder in Nordrhein-Westfalen zu Hause ist, habe ich den Eindruck: ziemlich wenig. Natürlich fanden Konzerte mit prominenten Künstlern und berühmten Ensembles statt, gab es großartige Aufführungen Beethovenscher Werke, Treffen mit Musikern, Werkstattgespräche, musikalische Projekte und vieles anderes mehr. All dies aber war von vornherein sehr elitär geplant und zudem regional auf Bonn und Umgebung begrenzt. Hinzu kamen die Einschränkungen und Ausfälle auf Grund von Corona, die so manches Vorhaben zunichte gemacht haben. Aber das war es nicht allein. Neben Präsenzveranstaltungen gibt es die Möglichkeit, Beethoven im Rundfunk und Fernsehen zu spielen und in den sozialen Netzwerken über ihn und seine Musik zu kommunizieren. Wurden diese Optionen hinreichend genutzt? Inzwischen ist das Gedenkjahr fast vorüber, von Beethoven aber, von seiner Musik, seinem Leben und Schaffen, habe ich kaum etwas vernommen. Im Rückblick stellt es sich mir sogar so dar, als ob das Jahr 2020 das Jahr in meinem Leben war, in dem ich so wenig Beethoven gehört habe, wie nie zuvor. Dies hat natürlich etwas mit den Einschränkungen infolge der Covid-19-Pandemie zu tun. Ganz ohne Zweifel! Konzert- und Opernaufführungen, Musikfestivals und andere kulturelle Präsenzveranstaltungen waren davon ja besonders betroffen. Dies allein aber vermag die Zurückhaltung der Kulturbranche gegenüber Beethoven nicht erklären. Zu diesem Eindruck gelangt man, wenn man die Konzertprogramme und das Angebot der Rundfunk- und Fernsehsender in diesem Jahr mit den Angeboten früherer Beethoven-Gedenkjahre vergleicht. Auch bei Abzug der Corona-bedingten Ausfälle fällt ein deutlicher Unterschied ins Auge. Dieser erklärt sich meines Erachtens nicht zuletzt aus dem veränderten Stellenwert Beethovens in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und der Hierarchie kultureller Werte.

Blicken wir zum Vergleich zurück auf das letzte Beethoven-Jubiläum, auf die Gedenkfeier aus Anlass des 200. Geburtstages des Komponisten im Jahr 1970. Auch jenes Jahr war ein „Beethoven-Jahr“ und der Komponist wurde entsprechend gewürdigt, in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich, in Europa und in der Welt, am meisten aber in der DDR. Da Ludwig van Beethoven weder dem Territorium der DDR verhaftet war noch der proletarisch-sozialistischen Musiktradition zuzurechnen ist, provoziert dies die Frage: Warum gerade hier? Die Begründung dafür ist in dem besonderen Verhältnis der DDR zur Kultur der „Klassik“ und zum progressiv-humanistischen Erbe der Französischen Revolution zu suchen. Dabei sind vor allem zwei Aspekte von Bedeutung: Beethovens Stellung in der Musikgeschichte als Repräsentant und Vollender der „Wiener Klassik“ und seine positive Haltung zur Französischen Revolution. Die Verbindung beider Momente, die Eigenschaft Beethovens als Klassiker und als Revolutionär, wie sie in seiner Persönlichkeit und in seinem Werk zum Ausdruck kommt, prädestinierte ihn, zum Favoriten der Kulturpolitik und zum meistgespielten Komponisten in der DDR zu werden. Beethoven wurde in der DDR wie ein „Staatskomponist“ behandelt. Für die zeitgenössische Musik galt er als „Maßstab“ und unerreichbares „Vorbild“, für die Politik als „echter Revolutionär“ (Ernst-Hermann Meyer) und für das Publikum als der „größte Komponist“, den die Menschheit bisher hervorgebracht hat (Georg Knepler). Es verwundert daher nicht, dass seine Musik von der DDR zum Bestandteil der „sozialistischen Nationalkultur“ erklärt worden ist. Dies bedeutete in der kulturellen Auseinandersetzung zwischen den beiden deutschen Staaten und im Kalten Krieg freilich eine Vereinnahmung und politische Instrumentalisierung (siehe dazu auch den Beitrag des Autors in Berliner Debatte Initial, Heft 2/2020).

Aber Beethoven wurde in der DDR auch gespielt. Und sein Werk wurde großen Teilen der Bevölkerung wirklich nahegebracht. Ein Beethoven-Jubiläum war hier ein „Volksfest“, an dem viele teil hatten und keine elitäre Veranstaltung für einige wenige reiselustige und gutbetuchte Musikliebhaber und Klassik-Fans. Auch wenn es in der DDR über die musikalischen Vorlieben der Bevölkerung mitunter überhöhte Vorstellungen gab und sich die Erziehungsdiktatur in Fragen der Musik als wenig wirksam und letztlich illusionär erwies, so war die massenwirksame Darbietung und Verbreitung klassischer Musik in Konzerten, Soireen, Festivals, Musikfestspielen und Chorfesten doch eine kulturelle Großleistung, die in der Welt bis heute ihres Gleichen sucht. Hinzu kam die obligatorische Musikerziehung und Förderung musikalischer Betätigung im Rahmen der Schulausbildung und an den Musikschulen.

All dies gibt es heute so nicht mehr. Der Unterschied tritt anlässlich des Beethoven-Jubiläums 2020 überdeutlich hervor. Dabei erscheint manches, wie die Weltoffenheit der Darbietungen und der Pluralismus der Interpretationen, durchaus als Gewinn. Anderes aber, so die fehlende Massenwirkung, die mangelnde Präsenz in Funk und Fernsehen und die verhältnismäßig geringe Einbeziehung des Publikums, erscheint dagegen als Verlust. Offenbar kann man heutzutage mit dem revolutionären Pathos und dem klassischen Ernst von Beethovens Musik nicht mehr viel anfangen. Ihr Fehlen im Jubiläumsjahr erscheint daher vielen kaum als Verlust. – Was unterscheidet ein Beethoven-Jubiläum von einem Fußballspiel? Letzteres findet auch unter Corona-Bedingungen statt und wird im Rundfunk und Fernsehen übertragen. Beethovens Musik dagegen nicht.