23. Jahrgang | Nummer 24 | 23. November 2020

Sigrid Damm auf Wanderschaft

von Ulrich Kaufmann

Knapp zwei Monate vor dem 80. Geburtstag der im thüringischen Gotha geborenen Erzählerin Sigrid Damm erschien der Band „Wandern – ein stiller Rausch“. Zum Jubiläum hat sich die Autorin noch ein größeres, schwer erarbeitetes Buch geschenkt: Wieder ist es ein Werk über Goethe. In dem Doppelporträt „Wechselfälle einer Freundschaft“ erkundet die Erzählerin Goethes Verhältnis zu seinem „Dienstherren“ Carl August.

Der Text vom Wandern basiert auf dem vor achtzehn Jahren publizierten Band „Tage- und Nächtebücher aus Lappland“. Das war ein Prachtband, „ein Traum von einem Buch“, wie es ein Kritiker seinerzeit formulierte. Sigrid Damm hatte den Text geschrieben und der vielseitig begabte Sohn Joachim (Hamster) Damm schuf damals wundervolle Collagen. Durch seine Buchgestaltung entstand vor Jahren ein gemeinschaftliches Gesamtkunstwerk. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es Hamsters jüngerer Bruder Tobias war, der den Text setzte und die Bilder reproduzierte. Hamster Damms farbige Collagen waren so wirkungsmächtig, dass der folgerichtig „zerrissene“ Text der Mutter ­– insbesondere auf helleren Blättern – etwas in den Hintergrund geriet. Autorin und Verlag wollten mit zeitlichem Abstand ergründen, wie das Prosastück für sich wirkt.

Die frühere (wie auch die nunmehr vorliegende) Version als gebundenes Taschenbuch sind aus einer doppelten Perspektive erzählt – aus der Sicht einer reifen Frau und eines halb so alten Mannes. Aus dem „Sie“ und dem „Er“ (von 2002) wurden nun die „Wanderin“ und der „Wanderer“. Damals konnte man vermuten, dass hier zwei Schreibende am Werk gewesen wären. Nun erfährt der Leser – im angefügten „Dank“ –, dass tatsächlich Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen der Söhne für die Erzählerin Sigrid Damm eine stoffliche Grundlage waren. Das Cover von Hans J. Wiedemann „zitiert“ ein Foto Hamster Damms aus dem ersten Lappland-Buch: einen im Wasser gespiegelten sonnigen Herbstwald. Diese Spiegelung könnte für die Dopplung der siebentägigen Wanderungen stehen. Beide, Mutter und Sohn, gehen den gleichen Weg – zu unterschiedlichen Zeiten. Oft beziehen sich die Erzählungen der Wanderin und des Wanderers aufeinander.

Sigrid Damms ruhiges Buch ist ein Gegenentwurf zur hektisch-schnelllebigen Welt der Großstädte. Erkundet wird die Schönheit der samischen Landschaft: die der Berge, Flüsse, Tiere, vor allem die der Menschen. Das harte Leben der Ureinwohner, der Fischer und Rentierzüchter, wird nicht nur aus der Distanz gesehen. Nein, Damm gelingt es, sehr persönliche Porträts zu zeichnen. Die Wanderin und der Wanderer werden in Hütten eingeladen, kommen mit den Einheimischen ins Gespräch.

Auf den ersten Blick glaubt man, eine Idylle zu lesen. Die Erzählerin kann jedoch auch im nordschwedischen Land der Samen die verheerenden Folgen der weltweiten Umweltzerstörung nicht ausblenden. Zu Beginn der Schilderung des vierten Tages erschrickt der Leser: „Allein wandern. Allein sein. An diesem Tag des wiederholten Schweigens bin ich so allein, daß ich mit einem Mal die gesamte Erde zu sehen meine.

Kleine bleiche Telegramme von der Welt fallen auf mich. Ich sehe Eisbären, die Leiber voller Umweltgifte, so daß ihre Fortpflanzung gestört ist, Kadaver von Pottwalen, deren Schadstoffwerte die von Klärschlamm überschreiten. Eismöwen, die an einem Konzentrat von chlor- und bromartigen Substanzen verenden. Ich sehe die Kinder der Eskimos, die Babys, die mit der dioxinbelasten Muttermilch täglich zwanzigmal mehr Polychlorierte Biphenyle einsaugen als die Weltgesundheitsorganisation für tolerierbar hält…“ Noch erschreckender ist, dass die Schriftstellerin dies bereits 2002 zu Papier gebracht hatte …

Es gibt, so ist zu hoffen, eine nachgeborene Generation von Damm-Lesern. Diese wird nach der Lektüre des Taschenbuches eigene Lesarten finden. Die Älteren, die man landläufig die – langsam aussterbenden – Kulturbürger nennt, werden der Versuchung nicht widerstehen können, die Urfassung heranzuziehen – zumal sie ein Inhaltsverzeichnis hatte.

Während der Wanderer meist über aktuelle Projekte und Zukünftiges nachdenkt, blickt die Ältere zunehmend zurück. Ihre Wanderung durch die archaische Landschaft Lapplands fließt mit der gedanklichen Wanderung durch ihr Leben zusammen. „Ich werde noch eine kleine Weile sitzen bleiben und dann meinen Weg fortsetzen; es wird die letzte Wegstrecke sein.“ Mit diesen Worten tritt die Wanderin aus der Erzählung. Die luftige Setzung des Textes und die Wahl einer anderen Schrift machen es möglich, die sich anschließende Reihung dreier Zitate (von Franz Fühmann, Friedensreich Hundertwasser und Reinhard Lettau) im Taschenbuch deutlicher hervorzuheben. In der Zitatmontage geht es dreimal um den Tod. So wird eine Verbindung zwischen dem Verschwinden der Erzählerin aus dem Text und dem Lebensende hergestellt.

Gotha, die Heimatstadt der Schriftstellerin, plante ein großes Fest für ihre Jubilarin. Coronabedingt wird sie ausfallen. Die Autorin wird am 7. Dezember ihren Geburtstag an ihrem Wohnort, am Meer verbringen – im Kreise der Familie.

Sigrid Damm: Wandern – ein stiller Rausch. Berlin 2020, Insel Taschenbuch, 189 Seiten, 14,00 Euro.

Ulrich Kaufmann verfasste „Die Schmerzgezeichneten müssen es sein – Zum Werk von Sigrid Damm“. Das Buch erschien 2017 im Jenaer quartus-Verlag.