Die Geschichte der deutschen Vereinigung und des Umbruchs in Ostdeutschland ist bisher vor allem eine westdeutsch geprägte Erzählung. „Umbruchserfahrungen“ ist deshalb ein besonders bemerkenswertes Buch, denn es wurde ausschließlich von ostdeutschen Sozialwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen verfasst. Kulturdominanz und Deutungshoheit des Westens werden durch den ostdeutschen Blick bewusst durchbrochen, was markante Unterschiede zu den gängigen Erzählungen des Mainstreams offenbart.
So stellt Michael Hofmann die ostdeutsche Transformation in einen Zusammenhang mit der neoliberalen „Wende“, die sich seit den 1980er Jahren in der westlichen Welt vollzog. Der damit verbundene soziale Wandel, worin sich „marktliberale Öffnungen“ mit einer „konservativen Gesellschaftsorientierung“ und einem „paternalistischen Politikstil“ verbanden, gab „den Takt im Vereinigungsprozess“ vor. Die erste Phase der Transformation war durch eine beschleunigte Flexibilisierung und Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft charakterisiert. Dabei zeichnete sich bereits in den 90er Jahren ab, was heute als deutliches Integrationsdefizit beklagt wird, nämlich dass die ostdeutsche Teilgesellschaft keine „Wohlstandsgesellschaft nach westlichem Vorbild“ ist. In der zweiten Phase (1999–2007) traten die marktradikalen Züge der Wende noch deutlicher hervor: Immer mehr Ostdeutsche arbeiteten in atypischen Beschäftigungsformen, bezogen ALG II und wurden sozial marginalisiert. Der in den 90er Jahren geschrumpfte ökonomische und soziale Abstand zum Westen vergrößerte sich wieder. Gleichzeitig nahmen regionale Unterschiede zu. Für die dritte Phase (2008–2020) werden „ausgleichende Tendenzen“ behauptet, aber nicht belegt. Der Aufsatz endet versöhnlich: Die Ost-West-Polarisierung sei heute „bei weitem nicht mehr die drängendste“.
Dieter Rink und Susann Burchardt berichten in ihrem Aufsatz von Arbeiterprotesten und Widerstand während der Transformation. Ihr Fazit ist, dass die Ostdeutschen die Zumutungen des wirtschaftlichen Umbaus keineswegs unwidersprochen hingenommen, sondern dagegen viel protestiert hätten. Leider „nur mit geringem Erfolg“. Marcus Böick, ein momentan sehr gefragter Autor, schreibt über die Treuhandanstalt und den Wirtschaftsumbau. Er hebt hervor, dass die Treuhand „tiefe Spuren“ im kollektiven Gedächtnis hinterlassen hat und als Langzeitfolge „ein mental geteiltes Land“. Nicht viel anders urteilt Peer Pasternack, wenn er sich in seinem sehr lesenswerten Aufsatz retrospektiv über die Abwicklung der Hochschullehrer der DDR äußert. Er entlarvt die Euphemismen des Vereinigungsprozesses, indem er zum Beispiel das Schlagwort von der „personellen Erneuerung“ der Wissenschaftslandschaft als „Beendigung oder Neudefinition nahezu aller DDR-Wissenschaftler“ und als Karriereschub für viele altbundesdeutsche Wissenschaftler charakterisiert. Neu ist seine Analyse der Herausbildung einer „alternativen Wissenschaftskultur“ als Antwort auf die Abwicklung und kollektive Deklassierung der ostdeutschen Wissenschaftler. Pasternack bemerkt aber auch, dass die etablierten westdeutschen Wissenschaftler mit dieser in Vereinen und Akademien organisierten, häufig aber nur als „Kuriositätenkabinett“ wahrgenommenen „zweiten Wissenschaftskultur“ im Osten nichts zu tun haben wollen. So blieb diese Möglichkeit einer Verständigung und Annäherung zwischen Ost und West letztlich aus. Inzwischen, so Pasternack, haben diese Vereine „ihre Funktionen gehabt“. Die neu herangewachsene Generation könne mit ihnen nichts mehr anfangen. Ist das so? Auch Thomas Ahbe erblickt in „den gegensätzlichen Narrativen aus der Zeit der Zweistaatlichkeit“ bis heute „eine Quelle oder eine Reibungsfläche für das Selbstverständnis“ des vereinigten Deutschlands. Das „Totalitarismus-Konzept“ und „die antifaschistische Erzählung“ stehen einander unversöhnlich gegenüber. Aber „neue Kohorten“ entwickeln neue Narrative. Dies gilt auch für die Ostdeutschen, die zuletzt „das Bild von den Ostdeutschen“ und „die Darstellung ihres Verhaltens in der Transformation und in der DDR“ geändert haben. Leider sieht er als Impulsgeber dafür allein Künstler, Journalisten und Politikerinnen und unterschätzt so den Beitrag, den ostdeutsche Wissenschaftler geleistet haben. Aber auch sie haben daran mitgewirkt, das bislang vorherrschende Narrativ einer „geglückten Transformation“ gründlich zu destrukturieren!
Ausdruck des unbefriedigenden Standes der deutschen Einheit sind die Befragungsergebnisse im „Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit“, worin zu lesen war, dass sich eine Mehrheit von 57 Prozent der Ostdeutschen als „Bürger zweiter Klasse“ fühlt und „nur rund 38 Prozent der Befragten“ die deutsche Vereinigung für „gelungen“ halten. „Bei Menschen unter 40 sind es sogar nur rund 20 Prozent.“ Mit diesen Befunden setzt sich der Religionssoziologe Detlef Pollack kritisch auseinander. Im Gegensatz zu allen anderen Autoren erblickt er in Analysen, die das „dunkle Bild einer von sozialen Frakturen, Fliehkräften und statusbezogenen Abwärtsbewegungen gekennzeichneten Gesellschaft“ vermitteln, keine begründete Reaktion auf reale Prozesse, sondern lediglich „Bekundungen der Unzufriedenheit, des Unverstandenseins, des Gekränktseins und der Empörung“ der Ostdeutschen, „um sich als benachteiligt zu stilisieren“. Er hält nichts von einem „Opferdiskurs“, in dem „wieder und wieder Verlustrechnungen aufgemacht“ werden und ostdeutsche „Ressentiments“ ihr Sprachrohr finden. In scharfer Polemik gegen derartige Statements versucht er nachzuweisen, dass der Osten gegenüber dem Westen seit 1990 gewaltig aufgeholt hat und die Ostdeutschen inzwischen „ein sehr hohes Wohlstandsniveau“ erreicht hätten. Um dies zu belegen, bemüht er sich um statistische Evidenz. Dabei unterläuft ihm jedoch ein Basisfehler, indem er (statt 1989) 1991 als Basisjahr ansetzt. Zudem unterscheidet er nur ungenügend zwischen absoluten und relativen Veränderungen. Er betont, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf seit 1991 im Osten auf das Vierfache gestiegen sei, im Westen aber nur auf das Doppelte. Diese Aussage scheint für eine rasante Aufholjagd zu sprechen, ist tatsächlich aber der Wahl des Basisjahres geschuldet. Wählt man als Bezugsbasis 1989, so erhält man für den Osten einen Anstieg auf weniger als das Zweieinhalbfache. Im Westen aber war es fast genauso viel, nämlich 225 Prozent. Dies spricht tendenziell eher für eine Parallelentwicklung als für eine rasante Aufholjagd! In den letzten 20 Jahren hat sich die Ost-West-Relation beim BIP pro Kopf daher auch nur von 0,60 auf 0,69 verbessert, also um weniger als einen halben Prozentpunkt pro Jahr. Pollack interpretiert dieses Aufholen im Schneckentempo als „sehr erfolgreich“ und wirft Kritikern vor, mit Westdeutschland einen falschen Vergleichsmaßstab gewählt zu haben. Bei einem Vergleich mit Polen, Ungarn oder Rumänien würde Ostdeutschland besser abschneiden! Wie wahr – aber zwischen der DDR und diesen Ländern gab es auch früher schon Niveauunterschiede! Was innerhalb Deutschlands zählt, ist der innerdeutsche Vergleich und nichts sonst. Ob in dem Diskurs tatsächlich „die Maßstäbe verrutscht“ sind oder ob dies nicht vielmehr für einige Äußerungen Pollacks zutrifft, soll dahingestellt bleiben.
Michael Hofmann (Hrsg.): Umbruchserfahrungen. Geschichten des deutschen Wandels von 1990 bis 2020, erzählt von ostdeutschen Sachverständigen. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2020, 220 Seiten, 25,00 Euro.
Schlagwörter: Michael Hofmann, Ostdeutschland, Sozialwissenschaft, Transformation, Ulrich Busch, Wende