Jede Woche sind in SZ, FAZ, Zeit, Spiegel und anderen „Qualitätsmedien“ Artikel zum Zustand und zur Zukunft der Demokratie oder zu den Angriffen auf die Demokratie zu finden. Kaum ein anderer Begriff wird derart missverständlich in der politischen Debatte verwendet wie „Demokratie“. In dessen diffuser Bedeutungsvielfalt muss unterschieden werden zwischen der repräsentativen, elitenorientierten Demokratie – die von den sogenannten Volksparteien verteidigt wird – und der emanzipatorischen, egalitären Demokratie, die mündige Bürger und die aktive Zivilgesellschaft in die politische Willensbildung und Entscheidungsfindung einbezieht. So verkünden die „Volksparteien“ ihr Mantra „Bürgerinnen und Bürger sollen sich für die Demokratie engagieren“, und tatsächlich ist Bürgerengagement beim Kampf gegen rechtsextreme Tendenzen oder beim Engagement gegen die Ausgrenzung von Migranten durchaus willkommen. Nicht erwünscht ist dagegen die Einmischung von „Nichtregierungsorganisationen“ in politische Debatten und Entscheidungsfindungen bei Themen wie Sozialstaatsabbau, Klimakatastrophe oder Freihandelsabkommen (CETA/TTIP). Die ideale Bürgerin und der ideale Bürger sollen sich im Sinne der „Volksparteien“ nur für die repräsentative, elitenorientierte Demokratie einsetzen, worüber sie von diesen Parteien gerne im Unklaren gelassen werden.
Überfordert die Demokratie das Volk? Entgegen weitverbreiteter Meinungen ist in Deutschland von einer Parteien-Herrschaft auszugehen, von einer Herrschaft des Volkes (Demo-kratie) kann kaum die Rede sein. Grund dafür ist die Überzeugung der oligarchischen Eliten in den sogenannten Volksparteien, das Volk sei mit schwierigen politischen Entscheidungen überfordert.
Für den Nationalökonomen Joseph Schumpeter (1883–1950) hatten die Bürgerinnen und Bürger lediglich die Aufgabe, sich bei allgemeinen Wahlen zwischen den konkurrierenden politischen Eliten zu entscheiden und ihnen die Regierungsmacht zu übertragen. Nach der Wahl soll sich das Volk aus den politischen Belangen heraushalten und seine passive Rolle akzeptieren; Demokratie sei eine Methode, um mit Hilfe des Elitenwettbewerbs geeignetes Führungspersonal hervorzubringen und zu legitimieren. Der erste Bundespräsident Theodor Heuss (1884–1963) scheute sich nicht, vor dem Volk wie vor einem bissigen Hund zu warnen und dem Parlamentarischen Rat sein berüchtigtes „Cave canem“ (Vorsicht Hund!) zuzurufen. Roman Herzog (1935–2017), zunächst Präsident des Bundesverfassungsgerichts und später einer von Heuss’ Nachfolgern als Bundespräsident, begründete seine Ablehnung der direkten Demokratie damit, dass es „in vielen Bereichen unrealistisch [ist] anzunehmen, dass die intellektuelle Leistungsfähigkeit, die eine moderne Staatsführung verlangt, bei der Mehrheit des Volkes gegeben ist“.
Der Soziologe und Politikwissenschaftler Claus Offe äußerte in „Demokratisierung der Demokratie“ 2003 die Ansicht, dass die Bürger durch die Komplexität beziehungsweise die Neuartigkeit der zur Entscheidung anstehenden öffentlichen Angelegenheiten kognitiv notorisch überfordert seien; dadurch falle es ihnen schwer, einen wohlerwogenen und deshalb selbstgewissen Gebrauch von der eigenen Willens- und Beurteilungsfreiheit zu machen – und nicht nur vorgefertigte fremde Willensbildungen weitgehend ungeprüft zu übernehmen. Und der Philosoph Julian Nida-Rümelin meint in seinem 2020 erschienenen Traktat „Die gefährdete Rationalität der Demokratie“, wir alle hätten ein Interesse daran, dass hinreichend Sachkompetenz die politischen Einzelentscheidungen prägt, die daher nicht Volksentscheiden zu überlassen seien. Seine Idee von Zivilkultur ist bizarr: „Ganz irreführend ist die Charakterisierung von Demokratie als ein institutionelles System, das den Volkswillen jeweils in politische Entscheidungen übersetzt. Die Selbstbeschränkung der Demokratie ist Volkswille in einer entwickelten Zivilkultur.“
Dagegen ist es höchst bemerkenswert, dass Richard von Weizsäcker als Bundespräsident schon 1992 kritisierte, Deutschland sei zu einer Parteiendemokratie geworden. Die Parteien hätten ihre Macht weit über die ihnen im Grundgesetz zugedachte Rolle hinaus ausgedehnt; sie beherrschten die Verfassungsorgane und versuchten zu verhindern, dass sich die Bürger stärker am demokratischen Prozess beteiligen.
Dabei ist die Bereitschaft der Menschen gewachsen, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren – allerdings außerhalb der Parteien: Im vergangenen Jahr 2019 wurden in Deutschland 1,2 Millionen Mitglieder politischer Parteien gezählt – die Zahl hat sich seit 1990 halbiert. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung („Zivilgesellschaft in Zahlen“) ermittelte dagegen 2019, dass es in Deutschland mehr als 600.000 Organisationen der Zivilgesellschaft gibt. In Vereinen, Stiftungen, Genossenschaften und ähnlichen Zusammenschlüssen engagieren sich 17,5 Millionen Bürger.
Obwohl im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 2018 zum Thema Bürgerbeteiligung vereinbart wurde, eine Expertenkommission einzusetzen, die Vorschläge erarbeiten soll, ob und in welcher Form die parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden könne, wurde diese Kommission bis heute nicht einberufen – zehn Monate vor der nächsten Bundestagswahl.
Fürchten die Parteien die Konkurrenz? Artikel 21 des Grundgesetzes spricht von der Mitwirkung der Parteien bei der politischen Willensbildung, nicht von ihrem exklusiven Recht darauf. Aber Konkurrenten werden diskriminiert und finanziell benachteiligt, wie dies der Entzug der Gemeinnützigkeit für Attac, Campact und das Demokratische Zentrum in Ludwigsburg beweist. Der Titel eines entsprechenden taz-Artikels zum deutschen Gemeinnützigkeitsrecht lautete: „Keine Konkurrenz für Parteien“. Auch durch eine unzweideutige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lassen sich die „Volksparteien“ nicht beirren: „Die Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit. Sie haben aber kein Monopol, die Willensbildung des Volkes zu beeinflussen. Neben ihnen wirken auch die einzelnen Bürger und vor allem Verbände, Gruppen und Vereinigungen auf den Prozess der Meinungs- und Willensbildung ein.“ (BVerfGE 20, 56)
Der Berliner Verfassungsrechtler Hans Meyer wies 2012 in einem Aufsatz darauf hin, dass direktdemokratische Elemente auf Bundesebene praktikabel und sinnvoll sind. Volksentscheide stellen seiner Auffassung nach die These einer „ausschließlichen repräsentativen Demokratie“ in Frage, die freilich nie Bestandteil des Grundgesetzes, aber lange Jahre Bestandteil des verfassungsjuristischen und politisch dominanten Zeitgeistes war.
Bleibt die Frage, warum die Schweizer Bürgerinnen und Bürger die Politik bei Sachentscheidungen mitgestalten dürfen, während dies den Wahlberechtigten in der Bundesrepublik Deutschland nicht in gleicher Weise zugestanden wird. Woher nehmen die Parteien die Gewissheit, dass die deutsche Bevölkerung gegenüber der Bevölkerung der Schweiz geistig zurückgeblieben ist?
Demokratie und Gleichheit gewinnen ihre emotionale Attraktivität vor allem dadurch, dass sie prinzipiell jeder Bürgerin und jedem Bürger die gleichen Chancen versprechen, Einfluss auf die Politik zu nehmen. Nur ist dieses Versprechen der Realität liberal-marktwirtschaftlicher Gesellschaften fundamental entgegengesetzt. Der emanzipatorische und egalitäre Kern der Demokratie wird in der parlamentarischen Parteien-Demokratie verfehlt, daher bleibt als Fazit: Holen wir uns die Demokratie von den Parteien zurück!
Michael Köhler, Sozialwissenschaftler, war 1978 bis 2013 als Sozialplaner und Abteilungsleiter in der öffentlichen Jugendhilfe einer süddeutschen Großstadt tätig.
Schlagwörter: direkte Demokratie, Grundgesetz, Michael Köhler, Parteien, Politik, repräsentative Demokratie, Zivilgesellschaft