Einer wie Frank Castorf (69) geht nicht einfach so in Rente. Seinen Berliner Intendantenjob hat er ein Vierteljahrhundert mit Vehemenz und Erfolg gemacht. Aus „seiner“ Volksbühne musste er quasi herausgetragen werden. Als Regisseur ist er seither landauf landab eher noch gefragter, zumindest bei risikofreudigen Intendanten. Und das nicht nur im Schauspiel. Auch im Musiktheater hat er spätestens mit dem Bayreuther Ring so etwas wie das Adelsdiplom der Branche erworben.
Castorf ist niemand, der mit seiner Meinung hinterm Berg hält. Die ersten Anti-Corona-Maßnahmen kommentierte er Ende April im Spiegel, er wolle sich von Angela Merkel nicht sagen lassen, dass er sich die Hände waschen soll.
Bei Anrollen der zweiten Corona-Welle fällt auf, mit welcher Regelmäßigkeit die deutschen Landesfürsten die Besonderheiten der Kulturinstitute vergessen, wenn sie in Talkshows oder vor der Presse über Systemrelevanz philosophieren. Ohne einen Anflug von Zweifel werden Theater, Opernhäuser und die freien Künstler der Rubrik „Vergnügen“ zugeordnet. Also einer Kategorie, in der sie ebenso als zeitweise verzichtbar behandelt werden wie Bars und Bordelle, ganz anders als Schule, Kirche und Baumarkt. Dabei sind gerade die Theater mit ihren vorbildlichen Abstands- und Hygienekonzepten Klassenprimus beim Umgang mit der Pandemie; das Publikum zählt mit seinen Verhaltensweisen in punkto Disziplin eh zu den Musterknaben. Gegen das rigorose „Tut nichts! Diese Häuser werden zugemacht!“ lässt sich offensichtlich juristisch kaum etwas ausrichten. Der in der Kulturszene geschätzte Anwalt Peter Raue wies darauf hin, dass große Theater, Opern und Konzerthäuser im Wesentlichen staatliche Einrichtungen seien, die praktisch nicht gegen ihren eigenen Staat klagen können. Das könnten nur Betreiber von Privattheatern. So wie Dieter Hallervorden für sein Schlossparktheater.
Ob die lauter werdenden Wortmeldungen von Künstlern und Vertretern der Kulturbranche gegen die mögliche Verlängerung des Lockdowns über den November hinaus etwas ausrichten können, bleibt unwahrscheinlich, denn ausgerechnet Opernhäuser und Theater sind zum Exempel einer Symbolpolitik im Kampf gegen das Virus avanciert.
Was den Beginn der Spielzeit 2020/21 betrifft, war klar, dass man in Hamburg einen geplanten Blockbuster mit großem Chor wie Mussorgskis „Boris Godunow” nicht auf die Bühne bringen konnte. Da Frank Castorf als Regisseur vorgesehen war, hätte der Vergleich mit Barry Koskys Inszenierung, die parallel in Zürich herauskam, auf der Hand gelegen. In Zürich blieb man bei der geplanten Oper und „trickste“ sich mit ausgelagertem Chor und Orchester sowie massivem Einsatz von Übertragungstechnik einen Godunow zurecht.
In Hamburg blieb Castorf zwar auch bei der Stange, rüstete aber auf eine Collage unter dem Titel „molto agitato“ ab. Ein musikalisch-szenischer Mix aus Kurt Weills „Sieben Todsünden“ und musikalischen Häppchen von Händel, Brahms und Ligeti. Auf nahezu leerer Bühne machte Castorf dazu auf seine Weise aus dem propagierten „America first“ der letzten Jahre mit wenigen Versatzstücken seiner Bühnenästhetik ein „America last“. Oder schon „lost“? Am Ende wurde daraus eine müde Veranstaltung, bei der sich auch das Genie von Bühnenbildner Aleksandar Denić nicht wirklich entfalten durfte. An der Elbe ging es vor allem um die Hauptbotschaft: „Wir spielen wieder.“
Anders jetzt in München: Dort kam endlich wieder Walter Braunfels’ (1882–1954) Oper „Die Vögel“ auf die Bühne. Gerade noch kurz vor dem November-Lockdown, nahezu ohne Publikum, aber doch als „richtiger“ Castorf. Da die Premiere einhundert Jahre nach der Münchner Uraufführung geplant war, wäre sie unter normalen Bedingungen zu einem Großereignis in der letzten Spielzeit von Intendant Nikolaus Bachler geworden. Musikalisch luxuriös ausgestattet, szenisch herausfordernd umgesetzt und obendrein ein Akt der Wiedergutmachung für einen von den Nazis verfemten Komponisten. Dafür hätte man in Bayern den roten Teppich ausgerollt und das große Tafelsilber rausgeholt. Aber bei 50 zugelassen Gästen (inklusive Journalisten), die im ersten Rang des 2100-Plätze-Hauses verteilt waren und sich dem durchgängigen Maskengebot beugten, ist schon respektvoller Beifall etwas zwischen Selbstermunterung, Kraftakt und Simulation …
Immerhin wurde die sonderbare Premiere zeitgleich kostenlos gestreamt. Danach stand sie einen Monat lang im hauseigenen Staatsoper-TV als Video-on-Demand zur Verfügung. Das kostete zwar 9,90 Euro für ein 24-Stunden-Ticket, verglichen mit den sonstigen Münchner Kartenpreisen ist das aber äußerst moderat.
Es wäre besonders schade gewesen, wenn ausgerechnet diese Produktion quasi im stillen Quarantäne-Kämmerlein „vergessen“ worden wäre. Bis 1933 hatten sich „Die Vögel“ auf vielen deutschen Opernbühnen niedergelassen. Danach verschwanden sie – genauso wie die Nazis ihren Schöpfer aus dem Rektorenamt der Kölner Musikhochschule jagten. Nach dem Krieg wiederum war der Komponist nicht modern genug. Kein Post- oder gar Anti-, mehr so ein Neben-Richard-Strauss. Dass dessen „Ariadne auf Naxos“ und „Die Frau ohne Schatten“ schon geschrieben waren, ist unüberhörbar. Auf Wagners Schultern standen sie eh alle.
Ingo Metzmacher schwelgte denn auch mit dem Bayerischen Staatsorchester auf diesen Wolken, zelebrierte den Rausch des Spätromantischen, trug die fabelhafte Sängercrew auf Händen. Er ließ aber auch ein kriegerisches Gewitter von der Leine, dass man meinte, ein wütender Zeus wolle einen Aufstand gegen die Macht der Götter wegdonnern.
In Braunfels’ nach Aristophanes selbst verfasstem Libretto verschlägt es die Herren Hoffegut (Charles Workman) und Ratefreund (Michael Nagy) ins Reich der gefiederten Wesen, in denen ein ehemaliger Mensch als König Wiedhopf (Günter Papendell) das Sagen hat. Die beiden menschlichen Gäste im sprichwörtlichen Wolkenkuckucksheim versuchen die Vögel zum Aufstand gegen die Götter aufzustacheln. Was ihnen dank eines musikalisch überbordenden, göttlichen Machtwortes, das ihnen Wolfgang Koch mit marxschem Rauschebart als Prometheus überbringt, gründlich misslingt. Während Ratefreund am Ende als gescheiterter Kriegstreiber das ganze Abenteuer als Blödsinn zusammenfasst, bleibt Hoffegut die Erinnerung an seine Begegnung mit der betörend trällernden Caroline Wettergreen als Nachtigall.
Zu all der entfesselten musikalischen Opulenz liefert die Bühnen-Ästhetik den Kontrast. Aleksandar Denić ist ebenso in Hochform wie Adriana Braga Peretzki mit ihrem Revueglamour bei den Kostümen. Lauter bunte Vögel in und um ein opulent aufgetürmtes und im Detail verkramtes Drehbühnenkonstrukt. Mit Kabelmasten und Parabolantenne. Mit einer Penthouse-Holzhütte in der Höhe und einer Leinwand für live Aufnahmen. Natürlich fehlen auch ein Riesenbild von Alfred Hitchcock und Ausschnitte aus seinem Sechzigerjahre-Vögel-Thriller nicht. Wenn die beiden Menschen als Kriegstreiber die schwarze Uniform nebst Hakenkreuz anlegen, blitzt es auch mal politisch auf, bringt aber nicht viel. Der Regisseur wirkte beim Beifall vom Rang zwar genervt – aber so sieht er meistens aus.
Indessen hat Castorf im Berliner Ensemble weiter an Erich Kästners „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ geprobt. Nicht nur die Premiere Ende März, auch der Ersatztermin Mitte November sind geplatzt. Und das lag nicht an den Beteiligten, sondern an den Umständen. Geprobt wurde jetzt erstmal, samt regelmäßiger Tests und mit jeder Menge Optimismus, was einen dritten Premierentermin betrifft.
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