23. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2020

Eiszeit zwischen Indien und China

von Edgar Benkwitz

Es ist November, im äußersten Norden Indiens und im angrenzenden Westen Chinas zieht in der Hochgebirgslandschaft der Winter ein. Wie in jedem Jahr ist mit heftigen Schneefällen und eisigen Temperaturen zu rechnen, die in einer Höhe von 4000 Metern minus vierzig Grad erreichen können. Aus der nun menschenfeindlichen Natur haben die letzten Nomaden mit ihren Herden längst die Ebenen und Täler aufgesucht. Doch genau hier stehen sich noch immer chinesische und indische Soldaten gegenüber. Ihre Gesamtzahl entlang der Konfrontationslinie zwischen Indien und China im Karakorum und dem angrenzenden buddhistischen Ladakh soll mittlerweile auf 100.000 Mann angewachsen sein. Eine Staatsgrenze nach völkerrechtlichen Prinzipien gab und gibt es dort nicht, uralte Karten und Gewohnheitsrechte verschaffen keine Klarheit, zwischen Indien und China herrscht hier gegenwärtig das Recht des Stärkeren.

Der alte Konflikt um bedeutende Territorien entlang der über 4000 Kilometer langen Grenzlinie (line of actual control – LAC) hat sich in diesem Jahr zugespitzt, aktueller Schauplatz ist wieder einmal der Nordzipfel Indiens. Beide Staaten haben hier militärisch aufgerüstet. Neben der Verstärkung der Truppen wurde schweres Gerät wie Panzer und Geschütze in das Hochgebirge geschafft, Vorposten stehen sich Mann gegen Mann gegenüber. Indien bemühte sich, für seine Mannschaften in der ganzen Welt Winterbekleidung bis hin zu Polarausrüstungen zu beschaffen.

Es ist der pure Wahnsinn, denn gleichzeitig betonen beide Seiten, dass es zu keinen bewaffneten Aktionen, geschweige zu einem militärischen Konflikt kommen darf. Ihre Außen- und Verteidigungsminister haben das während der im September in Moskau tagenden Schanghai-Gruppierung so festgelegt. Zudem gab es laufend Zusammenkünfte der regionalen Militärkommandeure im Grenzgebiet, die vor allem ein Auseinanderrücken der Truppen erörterten. Bisher ist aber nur gewiss, dass der Winter mit seiner unerbittlichen Härte bevorsteht und somit jegliche Aktionen zum Erliegen kommen werden. Die militärischen Außenposten werden sich wohl in den tiefen Schnee eingraben müssen.

Festgefahren, ja nahezu eingefroren sind auch die politischen Beziehungen zwischen beiden Staaten. Man hat sich gewissermaßen tief eingegraben – die Positionen beider Seiten sind verhärtet, es ist keinerlei Flexibilität erkennbar. Peking beharrt verstärkt auf seinen seit Jahrzehnten vorgetragenen territorialen Ansprüchen. Es will darüber hinaus den Ausbau der militärischen Infrastruktur durch Indien in den Grenzgebieten nicht hinnehmen, obwohl es gleiche Aktivitäten auf seinem Gebiet seit Jahren unternimmt. Im gegenseitigen Herangehen hat sich eine Politik der Stärke durchgesetzt, die sich in der Besetzung strategischer Punkte durch chinesische Soldaten auf indischen Territorien zeigt. Indien zahlt mit gleicher Münze heim, es besetzte im Gegenzug jenseits der LAC gelegene strategische Höhen, die einen militärischen Vorteil verschaffen könnten. Mit der gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Indern und Chinesen am 15. Juni am Fluss Galwan wurde jedoch der Höhepunkt erreicht. Indien bezeichnete diese Aktion, in der in 4.250 Metern Höhe 28 indische Soldaten den Tod fanden, als vorsätzlich von China geplant.

In der indischen Außenpolitik zeichnet sich seitdem ein verändertes Herangehen zu China ab. Lange Zeit galt der Grundsatz, dass zuerst die gegenseitigen Beziehungen normalisiert und entwickelt werden müssen, dann bestünde das Vertrauen für eine einvernehmliche Lösung der Grenzprobleme. Höhepunkt dabei waren die in den letzten Jahren stattgefundenen drei Gipfeltreffen zwischen Präsident Xi und Premierminister Modi, wo in vielen Fragen gegenseitiges Einverständnis erzielt wurde und die jeweils einen kräftigen Schub für die Vertiefung der Beziehungen brachten. Seit Mitte Juni, dem Massaker von Galwan, ist nicht mehr die Rede von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit. Außenminister S. Jaishankar forderte den Rückzug chinesischer Truppen und die Wiederherstellung des Status quo an der Kontrolllinie. Eine Nichtbefolgung würde negative Folgen für die bilateralen Beziehungen haben.

Doch die Einschränkung des Verhältnisses zu China findet bereits statt. Kontakte auf vielen Gebieten werden herunter gefahren, die wirtschaftlichen Beziehungen weitgehend einer staatlichen Kontrolle unterworfen. Doch das dürften für China nur Nadelstiche sein. Eine viel größere Bedeutung haben die Bemühungen, mit den USA, Japan, Australien und anderen westlichen Staaten Vereinbarungen und Absprachen zu treffen, die die Sicherheitsinteressen Chinas berühren.

Äußerst ungewöhnlich ist die Tatsache, dass nur eine Woche vor der amerikanischen Präsidentenwahl sich die US-Minister für Verteidigung und Äußeres, Espers und Pompeo, auf den Weg nach Neu Delhi machten, um dort mit ihren indischen Amtskollegen die sogenannten Zwei-plus-Zwei-Gespräche durchzuführen. Solche Doppelgespräche sind in der Diplomatie eher ungewöhnlich, in Neu Delhi führten sie zu einem Abkommen über den Austausch von Satellitenbildern, Landkarten und anderen geografischen Daten zur militärischen Nutzung. Es ergänzt drei bisherige Abkommen, die – in den letzten Jahren abgeschlossen – grundsätzlich für eine militärische Kooperation der USA mit ihren Verteidigungspartnern notwendig sind. Sie könnten in der Tat sehr schnell zu einem Verteidigungspakt oder gemeinsamen militärischen Maßnahmen führen. Indische Kommentatoren sprechen daher von einer jetzt bestehenden „Quasi-Allianz“ zwischen beiden Staaten. Gemäß dem neuen Abkommen erhält Indien in Echtzeit benötigte geografische Daten für alle militärischen Zwecke, auch für einen Einsatz von Raketen und Drohnen.

Auch die „Quad“, eine eher lose, aus Japan, Australien, den USA und Indien bestehende Gruppierung, wurde aufgewertet. Sie orientiert sich an gemeinsamen Prinzipien für den Indopazifik, gegenseitige Verpflichtungen ihrer Teilnehmer existieren bisher nicht. Anfang Oktober tagten erstmals die Außenminister dieser Gruppe, im Gespräch sind deren Formalisierung und eventuelle Erweiterung. Die Seestreitkräfte der „Quad“ führen gegenwärtig unter erstmaliger Beteiligung Australiens das Großmanöver „Malabar“ im Golf von Bengalen, unweit der für den Welthandel sensitiven Malakka-Straße, durch.

Zwischen Indien und den USA werden Fakten geschaffen, die China nicht gefallen dürften. Indien, wirtschaftlich und militärisch schwächer als China, bringt sein dennoch großes Potential ins Spiel und erhöht so seinerseits den Druck, um eine Änderung in Chinas Haltung in der Grenzfrage zu erreichen. Es spielt seine Karten aus und hat noch weitere Trümpfe bereit. So drängen nationalistische Kreise darauf, eine Mitgliedschaft in den von China dominierten Schanghai- und Brics-Gruppierungen zu überdenken, was deren Autorität enorm einschränken würde. Auch eine Änderung der indischen Haltung in Bezug auf Tibet, Taiwan, Hongkong und die Uiguren – was eine weitgehende Übernahme westlicher Positionen bedeuten würde – wird gefordert.

Die indischen Positionen sind bereits jetzt stark vom Nationalismus geprägt. Das zeigt sich im Fehlen offizieller Stellungnahmen zu den Grundfragen der Grenzstreitigkeiten sowie auch in Lösungsvorschlägen, die die Notwendigkeit von Kompromissen in den Territorialfragen einbeziehen. Ob China darauf eingeht, würde sich zeigen. Denn auch China bietet gegenwärtig keine grundlegenden Lösungen an. Es wird zwar ständig von Verständigung gesprochen, wesentliche Fragen werden aber nicht berührt. Peking lobt die Gespräche auf diplomatischer und militärischer Ebene, es gibt aber keine essentiellen Fortschritte. Den erfolgten Rückzug einiger chinesischer Vorposten bezeichnet Indien als „Salamitaktik“, die die wahren Absichten Pekings verschleiern soll.

Sollte sich auf beiden Seiten kein echter Verständigungswille zeigen und China nach wie vor seine Vorteile nutzen, um Indien unter Druck zu setzen, wird die Konfrontation in den umstrittenen Grenzgebieten ungeachtet aller Wetter- und sonstiger Unbilden andauern. Dann werden die nationalistischen Kräfte in Indien weiter Aufwind bekommen und der Einfluss der USA in Indien und im indopazifischen Raum wird zunehmen.