23. Jahrgang | Nummer 22 | 26. Oktober 2020

Vom Graben in der Zeit

von Wolfgang Brauer

Trybek war nach Enzthal gekommen, um meine Tante Marie zur heiraten.“ So meint sich Hartwig Laub zu erinnern. Hartwig „glaubt viel, weiß wenig“, meint wiederum Trybek. Der steht schließlich mit Freja, der Schweinin, vor dem Altar. Freja, die den goldborstigen Keiler reitet, aber gegen Maries seltsamen musikalischen Einfall nichts ausrichten kann, der ihr die Trauung im vom Nebel abgeriegelten Dorf versaut. Trybek, der Tausendsassa, der sich im Berg auskennt wie sonst nur Torbern, der Steiger aus Falun, und ausnehmend gut aussieht in seiner Bergmannsuniform. Trybek, der Edgar genannt wird, aber eigentlich Jakub heißt und von Torbern, der sonst nur nach Kupfer wühlt, aus dem Dreck gegraben wurde. Trybek, der seine Mutter sucht, die Valeska, von der keiner weiß, wo sie abgeblieben ist, die Polackin, die auf einmal schwanger war vom besoffenen Heinrich Karge, dem Ortsgruppenleiter. Aber eigentlich war doch Woltzens Theo scharf auf sie, der Sohn des blinden Kaufmanns Woltz. Theo, der in Spanien kämpfte, bei der Legion, nicht bei den Roten und dennoch von Max Hoelz gerettet wurde. Genau der Hoelz, der im März 1921 die Revolution versuchte nach Enzthal zu bringen, aber umkehrte, weil ihm Hartwigs Großvater, der war damals erst sechzehn, den Hut vom Kopf schoss. Hoelz, der wiederum nicht in der Oka ersoff, sondern Stalins Bütteln entkam und nicht nur den Spanischen Bürgerkrieg überlebte, auch das Ende des „Soldatensenders“, der zumindest zwischen 1945 und 1955 geborenen Ostdeutschen noch ein Begriff sein wird. Hoelz, der Anarchist wohl eher nicht, obwohl Günter Reisch versucht hatte, ihm 1973 ein filmisches Denkmal zu setzen: „Wolz – Leben und Verklärung eines deutschen Anarchisten“. Das offizielle DDR-Bild der Geschichte des Kupferlandes bestimmte der Gotsche aus Gerbstedt. Für wilde Fanatiker der Gerechtigkeit war da kein Platz.

Wolz, Woltz? Der Lausitzer Schriftsteller Reinhard Stöckel liebt die Spiele mit offenen und verdeckten Anspielungen. Munter plündert er die verkramten Werkstattkisten von Historie, Literatur und Film. Und er fährt ein merkwürdiges Personal in seinem Roman „Kupfersonne“ auf. Und er erzählt eine merkwürdig widerborstige Geschichte, die auf noch merkwürdigere Weise ein Beziehungsnetz knüpft zwischen dem Spanien des Generals Franco mit dem Mansfelder Land in der braunen Zeit und der Zeit danach, in der die Lattkes ohne Land versuchten, den Karges und Vossens mit den ererbten oder angeheirateten Äckern die Gemeinschaft schmackhaft zu machen – und ausgerechnet deren Republik ihren diplomatischen Frieden mit dem Caudillo machte. Ach, auch wir sangen wie Hartwig Laub und sein väterlicher Freund Edgar mit dem „Lied der Jarama-Front“ und „Spaniens Himmel“ hilflos gegen solch verlogene Zustände an, aber Hartwig nimmt die „Fünf Patronenhülsen“ wörtlich – die Rede ist von Frank Beyers Film (1960) über den spanischen Bürgerkrieg – und plant, wenn nicht die Revolution, so doch wenigstens den Bürgerkrieg. Meint er wenigstens.

Wir wissen inzwischen, wie die Geschichte ausging. Die Dreckschweine vom Wackendorfer Dreckschweinfest bleiben die Dreckschweine, die weißen Knaben aber sind heute nicht nur im Ritus obenauf. Das Fest ist zur Touri-Folklore verkommen, für die selbst der Focus wirbt. Nun ist „Kupfersonne“ kein „Wenderoman“, mit dem ein postmoderner Schreiber versucht, seinen Lesern möglichst spielfilmgerecht – im Unterschied zu vergangenen Zeiten sitzt manchen Autoren weniger der eigene Zensor hinter dem Ohr, sondern eher die Dramaturgieabteilung von ZDF oder Degeto im Genick – die jüngste Geschichte zu erzählen. Die wahre Geschichte natürlich, die einzig wahre. Bis zum nächsten Dreiteiler jedenfalls. Reinhard Stöckel sucht Geschichte zu greifen, ihrem unterirdischen Beziehungsgeflecht auf die Spur zu kommen, indem er Geschichten in einer Geschichte erzählt – wohl wissend, dass die Geschichte ein glitschiger Fisch ist, den man für einzigartig hält, zwar mit Händen greifen kann und der dennoch immer wieder durchrutscht. Wer ihn hat, muss ihn totschlagen. Um dann festzustellen, dass es hunderte anderer Fische im Schwarm gibt, die sich aus der Entfernung scheinbar alle gleichen. So wie der Traum vom freien Volk auf freiem Grund bei den Bauern und Knappen Thomas Müntzers, bei ihren Nachkommen, die den Hoelz nicht ins Dorf lassen wollten, bei den Bündischen, die dann dem Führer hinterherrannten und schließlich denen, die meinten, jetzt wirklich die „Sieger der Geschichte“ zu sein und in sentimentaler Verklärung „Spaniens Himmel breitet seine Sterne …“ singen ließen. Aber die breiten ihr fahles Licht auch über Antonios Mispelplantage in der Nähe von Salamanca aus, die ein entsetzliches Geheimnis verbirgt. Werden beim Wühlen mit bloßen Händen im Erdboden die Fingerspitzen rot, weiß der Geologe Hartwig Laub, kann das weiche Metall im Spiele sein: „[…] hüte dich, wenn der Stein zu glühen beginnt, erscheint die Kupferkönigin“. Steiger Torberns Rat, in der Erde zu graben, „nicht in der Zeit, sonst sperren sie dich ein“, folgt der Autor dezidiert nicht. Er hat ein verstörendes Buch vorgelegt, dem ich weite Verbreitung wünsche. Dem Verlag ist für diesen Glücksgriff zu gratulieren!

Reinhard Stöckel: Kupfersonne. Ein Roman in drei Büchern, müry salzmann, Salzburg – Wien 2020, 500 Seiten, 29,00 Euro.